Mit oder ohne Bart?

Existenzielle Geschmacksfragen in der Provinz: Von großen Gefühlen hinter kleingeistigen Fassaden erzählt Agnès Jaouis Debütfilm „Lust auf Anderes“

von ANKE LEWEKE

Über Geschmack lässt sich angeblich nicht streiten. Doch wäre ich einigermaßen beleidigt, wenn Ihnen „Lust auf Anderes“ nicht gefallen würde. Was das eigene Herz aufgehen lässt, das sollen gefälligst auch die anderen mögen. Dass Geschmacksfragen eben nicht einfach nur Geschmacksfragen sind, sondern etwas mit unseren Überzeugungen, unserer Wahrnehmung und unserer Haltung zur Welt zu tun haben, davon erzählt dieser Film.

So liegen in Agnès Jaouis Regiedebüt zwischen rosaroten Schweinchentapeten und blümeranten Wandbehängen nicht nur graduelle Geschmacksverirrungen, sondern gleich ganze Universen. Vom anderen Geschmack zum neuen Lebensstil: Da wäre der neureiche Kulturbanause Castella (Jean-Pierre Bacri), ein Mann, der eigentlich nur noch Geschmack am Essen findet. Wenn Castella plötzlich auf Vernissagen geht, gefällt ihm dann wirklich die moderne Kunst, oder sucht er nur den Kontakt zu seiner Herzensdame? In Sachen Vorlieben, Gewohnheiten und Eigenarten hat wohl jeder schon mal eine 180-Grad-Drehung vollzogen, um der neuen Liebe irgendwie näher zu kommen. Überhaupt, wenn sich etwas ändern muss, beginnt man ja meistens mit den eigenen vier Wänden und räumt die eigene Visage gleich mit auf.

Für den melancholisch vor sich hin lebenden Fabrikbesitzer Castella kommt es daher einem Erdbeben gleich, wenn er ein kühnes abstraktes Gemälde mitten ins plüschartige Wohnparadies seiner Frau hineinhängt. Dass diese erste eigenständige Geschmacksäußerung nach Jahrzehnten der Ehe auch Ausdruck einer Entzweiung ist, wird von ihr schlichtweg ignoriert. Umgehend entfernt sie das Objekt aus dem Sichtfeld. Später wird sich Castella sogar den spießigen Schnauzbart abrasieren, aber nicht einmal seine Frau bemerkt den äußeren Wandel, geschweige denn, was in ihrem Mann sonst noch so alles vorgeht.

Mit solchen kleinen Beobachtungen spricht einem dieser Film immer wieder aus der Seele. „Lust auf Anderes“ erzählt vom Existenziellen im Alltäglichen, von großen Umbrüchen in kleinen hilflosen Gesten, von wahren Gefühlen hinter kleingeistigen Fassaden. Bestens verstanden fühlte man sich auch von Alain Resnais’ Film „On connaît la chanson – Das Leben ist ein Chanson“, für den Agnès Jaoui zusammen mit ihrem Mann Jean-Pierre Bacri das Drehbuch schrieb. Da war es das Chanson, das mit seinen beschwingten Binsenweisheiten, seinen pathetischen Plattitüden und seiner Küchenphilosophie das Leben ganz allgemein auf den Punkt brachte. Wurde das populäre Lied in Resnais’ Film zum kollektiven Gedächtnis, in dem die Erfahrungen und Erlebnisse des Einzelnen immer schon aufgehoben sind, so geht Jaoui in ihrer ersten Regiearbeit den umgekehrten Weg.

Es sind die kleinen Verletzungen, Empfindungen und Geschmacksdispute, die sich hier zu einer beschwingten Provinzparabel verdichten, zu einer Art universellen Seelenlandschaft. Dennoch sind die Figuren hier alles andere als Platzhalter für Allerweltsgefühligkeiten. Jaoui kennt ihre Pappenheimer so gut, dass sie auch um ihre Schwächen weiß, um Castellas Tolpatschigkeiten, die Hysterien seiner Frau, die Hochnäsigkeiten einer nicht mehr ganz jungen Schauspielerin und das viel zu große Herz der von ihr selbst gespielten Kleindealerin und Kellnerin.

Castella hat sich in einer Provinzaufführung des französischen Theaterklassikers „Bérénice“ in die Schauspielerin Clara verliebt. Über privaten Englischunterricht versucht er, ihr näher zu kommen, bildet sich, liest Bücher, geht eben auf Ausstellungen, schreibt unbeholfene englische Liebesgedichte. Da wächst einer über sich hinaus und wird doch immer wieder mit kühlem Künstlerdünkel abserviert. Vielleicht sind es eben doch als Geschmacksfragen getarnte Vorurteile, die hier den Blick der Angebeteten verstellen.

In „Lust auf Anderes“ geht es also ums Eingemachte. Um die Befreiung des Blicks durch die Liebe. Um die Angst vor der Einsamkeit und die Strategien, mit denen man sie bewältigt. Um zu Unrecht gegebene Elfmeter und große Vorstellungen in kleinen Provinztheatern. „Le goût des autres“ heißt auf Deutsch eigentlich „Der Geschmack der anderen“. Also auch der Geschmack von Castellas ewig wartendem Leibwächter und seinem Chauffeur, zwei liebenswerten Kleingeistern, die das Geschehen immer wieder wie ein stoischer griechischer Chor kommentieren. Dass Geschmack letztlich auch eine Frage der Perspektive, der Erziehung und der Bildung ist, wäre eine weitere der vielen klugen Binsenweisheiten, die dieser Film so unglaublich warmherzig verhandelt.

„Lust auf Anderes“. Regie: Agnès Jaoui. Mit Agnès Jaoui, Jean-Pierre Bacri, Anne Alvaro, Gérard Lanvin u. a. Frankreich 2000, 112 Min.