Schnee in Chinatown

Die CD-Anthologie „Flashbacks“ erinnert an verdrängte Seiten von Blues, Jazz und Folk und zieht manch fragwürdige Parallele zu aktuellen Debatten

von JÖRG FEYER

Mag sich die Gegenwart in immer kürzeren Innovationszyklen einer rasenden IT-Industrie verflüchtigen: Die große Retrospektive ist längst etabliert. Für seine „Flashbacks“-Reihe, sechs Einzel-CDs stark, recherchierte der Autor und Verleger Werner Pieper (MedienXperimente) in New Orleans, New York und London. Und wer so fleißig sammelt, der muss gut sortieren, um den Überblick nicht zu verlieren, der dem Interessierten ja verschafft werden soll.

Pieper mag die schmissige Begriffspaarbildung, dazu hübsch-plakative Cover. Zwischen grobkörnigen US-Soldaten in Siegerlaune („Hitler & Hell: American WarSongs“) und einem frühen, schon barbusigen Go-Go-Girl („Hot & Sexy: CopulationBlues“) bleiben die Augen unweigerlich an zwei weit aufgerissenen Augen hängen, die gebannt in die Leere stieren, während die dazugehörige Frau mit spitzen Fingern an einem weißen Pulver schnüffelt. Unweigerlich schießen einem da wieder diese Fotos durch den Kopf, die einen kürzlich in Richtung Florida entsorgten Fußballtrainer auf den Boulevard der großen Heuchelei gezerrt hatten.

Hat Herr Pieper Ahnungen gehabt? Jedenfalls stellt er „High & Low: DrugSongs 1917 – 1944“ nicht nur an den Anfang seiner Reihe, er lässt sich zudem im Booklet „exemplarisch“ über Kokain-Lieder aus: Koks = Modedroge eines entfesselten Spätkapitalismus? Von wegen! Die Symptome indes sind dieselben geblieben, wie Pieper anhand von Victoria Spiveys „Dope Head Blues“ (1927) dokumentiert. Von der Plattenfirma Okeh damals noch als „die Platte, die vor Traurigkeit stöhnt“, angepriesen, hörten Kritiker einen „Höhepunkt der unrealistischen Selbstüberschätzung durch Kokain“: Die 21-jährige Spivey wähnt sich schon reicher als Rockefeller und will Bullen mit bloßen Händen domestizieren. Heute würde sie wohl freiwillig Haare lassen.

Doch es schneit nicht nur kräftig. Legale Drogen wie Zigaretten und Kaffee werden ebenso besungen wie der Prohibition ein „Moonshine Man Blues“ hinterhergelallt (echt besoffen: Peter Cleighton) und ein paar schöne Joints durchgezogen, nicht nur vom „Reefer Man“. So wie die Hollywood-Gangsterfilme jener Jahre die Zensur unterliefen, indem sie Gewalt implizierten statt zeigten, so verklausulierten viele Musiker ihr Faible für „bewusstseinsbewegende“ (Pieper) Substanzen, um nicht auf der schwarzen Liste des „Commissioner Of Narcotic Drugs“ mit Auftrittsverboten belegt zu werden. Selbst die große Ella Fitzgerald zeigte so 1938 ein bisschen Sympathie für den „Wacky Dust“, auch Louis Armstrong trieb „Old Smokey Joe“ auf der Jagd nach seiner Minnie durchs koksende Chinatown („Kickin’ The Gong Around“). Keine Macht den Drogen? Ein bisschen wohl schon. Schön ambivalent bleibt die Zusammenstellung. Doch die moralische Überheblichkeit aktueller Beiträge zum Thema liegt hier meist fern.

Auch sonst ist Pieper bemüht, Brücken zur Gegenwart zu schlagen, was zuweilen fragwürdige Resultate zeitigt. In „Crazy & Obscure: NoveltySongs“ schlägt er unvermittelt den Bogen vom immerhin KZ-bewehrten „Swing Jugend“-Verbot der Nazis zum Criminal Act in England. „Jugend & Ekstase scheint nicht mit Demokratie kompatibel zu sein“, bekundet Pieper Rave-Sympathie. Treiben nicht gerade ein paar kleine Verbote die Jugend zur Ekstase, erst recht in einer Demokratie? Und nur noch naiv mutet sein Resümee in Folge 5, „Gospel & Prayers: Halleluja“, an. Da zieht er die Linie vom Spiritual über Jazz und Blues zum Rap und schreibt: „Der Fakt, dass sich diese Musikformen immer weiter entwickeln, zeigt auch, dass sich die Unterdrückten weigern sich ihrem Schicksal im Kapitalismus zu ergeben.“ So viel Anteilnahme wird Puff Daddy und anderen Unterdrückten des heutigen HipHop-Kapitalismus gewiss helfen, ihr schweres Schicksal zu meistern.

Sechs-CD-Reihe „Flashbacks: USA“, Vol I – VI (Trikont)