Modernisierung! Aber wie?

HOCHSCHULEN IN DER KRISE (1): Die Geisteswissenschaften erodieren. Die Naturwissenschaften verlieren Studenten und Forschung an die Industrie

Selbst die Max-Planck-Gesellschaft legt Wert auf Patente – dabei ist ihre Aufgabe die GrundlagenforschungWas sich in den Unis „Centers of Competence“ nennt, heißt in Firmen schon länger „Profit Centers“

Die deutsche Wissenschaft, voran die Hochschule, droht die Modernisierung zu verpassen. Öffentlichkeit, Politik, Wirtschaft und Studierende wollen sie nicht mehr, wie sich an fast wöchentlich verlautbarten Reformvorschlägen ablesen lässt. Sie verliert ihren guten Ruf, ihr Geld, ihre Zukunft. Gängige Lösungen heißen „Profilbildung“ und „Technologie-“ oder auch „Wissenstransfer“. Doch sehen sich die Hochschulen mit gegensätzlichen Ansprüchen konfrontiert – mit dem Zwang zur ökonomischen Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse und mit dem Wunsch der Gesellschaft, über die Entwicklung der Hochschulen mitzubestimmen. Beiden Ansprüchen jedoch ist gemeinsam: Sie zielen auf eine Öffnung der Wissenschaft. Während der wirtschaftliche Einfluss schon heute wirkt, findet gesellschaftliche Mitsprache noch immer nicht ausreichend statt. Doch möglicherweise öffnet der „ökonomische Rammbock“ die Institutionen der Wissenschaft auch für eine Demokratisierung.

In der Vergangenheit speiste sich das Selbstverständnis und die Autorität der Wissenschaft vor allem aus der Gewissheit, gesellschaftlich nutzbares Wissen hervorzubringen. Diese Gewissheit ist heute erschüttert – sowohl in der Lehre wie in der Forschung.

Die „weichen“ Geistes- und Sozialwissenschaften hingegen werden als „nice to have“, aber als entbehrlich angesehen; sie haben zunehmend Schwierigkeiten, ihre Studierenden konsequent für einschlägige Berufsfelder auszubilden, die es kaum noch gibt. Die Studierenden quittieren diese Perspektivlosigkeit mit hohen „Drop-out-Quoten“, verlassen in wachsender Zahl diese Studiengänge vor ihrem ersten akademischen Abschluss oder wechseln in andere Disziplinen, die eher Erfolg zu versprechen scheinen. Bei den betroffenen Fakultäten wirkt das Desaster der Lehre auf die Wissenschaft zurück: Angesichts der Kürzungen sind ganze Institute in ihrer Existenz bedroht – davon ist auch die Forschungsfreiheit berührt.

Im Gegensatz dazu gelten die „harten“ naturwissenschaftlichen Fächer als Garanten für das ökonomische Überleben der wissenschaftlichen Institutionen. Und in der Tat befinden sich die „Life-Sciences“ und insbesondere die IuK-Technologien im Aufschwung. Doch paradoxerweise machen die Professoren dieser Disziplinen die Erfahrung, dass ihnen die Studierenden bereits im Hauptstudium von einschlägigen Unternehmen abgeworben werden. Dies trifft die Wissenschaft elementar: Ehe sie sich versieht, hat sie ihren akademischen Nachwuchs verloren. Damit droht die Lehre instabil zu werden.

Lehrcurricula an Hochschulen stehen überdies im Kreuzfeuer der Kritik. Sie werden als zu starr, zu unflexibel, ja zunehmend als rückständig wahrgenommen – und dies insbesondere von Wirtschaftsunternehmen. Die Forderung an die Fakultäten lautet: Modularisiert eure Studiengänge! Dies hätte zudem den Vorteil, dass die Hochschulen sich endlich auch dem Weiterbildungsmarkt öffnen könnten, den sie seit Jahren vernachlässigen. Stattdessen wird das wachsende Engagement privater Bildungsinstitute eher belächelt. Dabei liegt hier die Chance der Hochschulen, zukünftig ihr Geld für Lehre und Forschung zu verdienen und ihre Leistungen weiteren Gruppen der Gesellschaft zu erschließen. Die Nachfrage nach spezialisiertem Wissen ist bei den Berufstätigen zwischen 30 und 50 Jahren enorm gewachsen. Sie sind die „New Learner“, die sich berufsbegleitend fortbilden wollen unter Ausnutzung des von den Hochschulen generierten Wissens. Die Unfähigkeit, respektive Ignoranz, der institutionalisierten Wissenschaft, kundenorientierte Marktmodelle zu entwickeln, hat dem außerwissenschaftlichen Wettbewerb auf dem Weiterbildungsmarkt jetzt schon uneinholbare Vorteile verschafft.

Zusätzlich zu den antiquierten Lehrmodellen und verpassten Chancen in der Weiterbildung wackelt längst auch die Forschung. Die traditionelle Unterscheidung zwischen der anwendungsbezogenen und der Grundlagenforschung hebt sich mehr und mehr auf. Forschung ist teuer und soll einen verwertbaren Nutzen haben. Daher hat auch die Politik längst in jenen vielstimmigen Chor eingestimmt: Forschung dürfe kein Selbstzweck sein. Und so ist es nur logisch, dass selbst die Max-Planck-Gesellschaft inzwischen großen Wert auf Patente legt – also eine Wissenschaftsorganisation, deren vornehmste Aufgabe eigentlich die Grundlagenforschung ist. Doch ist es vielleicht gar nicht zu bedauern, dass die Wissenschaft damit zu einer Forderung von Leibniz zurückkehrt, der bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts „theoriam cum praxi“ als die Grundlage des wissenschaftlichen Arbeitens postulierte.

Wenn das Primat der Praxis, und damit der ökonomischen Verwertbarkeit, jedoch zur alleinigen Maxime wird, dürfte das die Entwicklung der Wissenschaft eher behindern als verbessern. Auch hier zeigen privatwirtschaftliche Ansätze, dass Grundlagenforschung durchaus nützlich sein kann, denn das Ringen um Marktanteile ist immer auch ein Ringen um die besten Köpfe. In dieses Bild passt, dass etwa Horst Strömer seiner nobelpreisgekrönten Forschung in den Bell Labs der US-Firma Lucent nachgeht. Bisher hat er noch jeden Wechsel an ein anderes Institut abgelehnt und war darüber hinterher jedesmal „unheimlich froh“, wie er in einem Interview verriet – mit den Bedingungen der Bell Labs kann kaum eine wissenschaftliche Institution konkurrieren.

Vor diesem Hintergrund haben sich zwei grundsätzliche Forschungsmodelle in den „neuen“ Disziplinen ergeben. Eine erste Variante führt exemplarisch der „Wettlauf um das menschliche Genom“ vor, der zwischen Craig Venters Privatfirma Celera und dem öffentlich finanzierten internationalen Human Genome Project ausgetragen wurde. In dieser direkten Konkurrenz von Staat und Markt hat sich gezeigt, wie leistungsstark inzwischen privatwirtschaftlich geführte Unternehmen auf dem angestammten Feld der „institutionalisierten Wissenschaft“ geworden sind. Die andere Variante: Kooperation statt Konkurrenz. Immer häufiger lässt die Industrie in den Universitätslabors forschen; allein in den USA wird das Projektvolumen für 1999 auf 2,2 Milliarden Dollar geschätzt – das entspricht ungefähr dem Doppelten des Jahresetats der gesamten Max-Planck-Gesellschaft. Über solche Allianzen wird die „Kapitalisierung des Wissens“ ermöglicht – sie kann aber nur gelingen, wenn beide Partner profitieren. Während die Wirtschaft vergleichsweise günstig hochkarätiges Know-how einkaufen kann, gewinnt die Hochschule mehr finanziellen Freiraum.

Doch hat es die Wissenschaft nicht nur mit Studierenden, Unternehmen und „New Learnern“ in Lehre, Weiterbildung und Forschung zu tun. Immer öfter schalten sie sich alle auch als Öffentlichkeit ein und wollen mitentscheiden bei der Frage „Welche Zukunft wollen wir?“ Angesichts dieser „Einflussnahme“ war die Zeit reif für eine Legitimationsoffensive der institutionalisierten Wissenschaft. Der Prototyp dafür wurde Mitte der Achtzigerjahre unter dem Label „Public Understanding of Science“ (PUS) in Großbritannien entwickelt und wird inzwischen weltweit und im vergangenen Jahr auch in Deutschland adaptiert, von Forschungsorganisationen, Ministerien und forschungsfördernden Institutionen. Dieser Versuch zeigt jedoch noch eine entscheidende Schwäche, die vom Gedanken der Aufklärung beeinflusst ist: Die Wissenschaft definiert sich einseitig als Creator, als Ideenentwicklerin, als Motor des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses. Erst in jüngster Zeit wächst die Erkenntnis, dass es auch darum geht, zuzuhören – dass die Öffentlichkeit legitime Ansprüche hat und die Wissenschaft sich der Kritik im Dialog öffnen muss.

Die bisherigen Modelle dieser Öffnung erschöpfen sich oftmals in der schlichten Einführung von betriebswirtschaftlichen Prinzipien – wobei die Grenze zwischen Wissenschaft und Wirtschaft auch semantisch durchlässig wird: Was sich an den Hochschulen neuerdings „Centers of Competence“, „schlankes Studium“ und „Profilbildung“ nennt, das heißt in Wirtschaftsunternehmen schon länger „Profit Centers“, „Lean Production“ oder „Konzentration auf Kernkompetenzen“. Zweifellos: Die Wissenschaft ist gezwungen, sich aus Wettbewerbsgründen zu öffnen. Wenn sie als gesellschaftliche Unternehmung bestehen will, darf jedoch nicht allein die Wirtschaft als exklusive Partnerin gewählt werden, sondern die gesamte Öffentlichkeit. Die Frage „Welche Wissenschaft wollen wir?“ ist allerdings nur dann sinnvoll zu stellen, wenn die institutionalisierte Wissenschaft wirklich bereit ist, sich zu verändern.MARC BOVENSCHULTE / OLAF GAUS