Die leere Mitte

Ist Jungsein demokratisch? Über die Neuerfindung des Urmännlichen in der Hochzivilisation, das Barbarische als letztgültige Provokation und die verzweifelte Suche nach den unbesetzten Räumen. Anmerkungen zu den Wurzeln des Rechtsradikalismus

von KERSTIN DECKER

Die Mitte unserer Gesellschaft ist leer, sagen manche. Expressivere konkretisieren: Die Mitte dieser Gesellschaft ist die Leere. Wahrscheinlich haben sie Recht. Sie haben nur vergessen, es zu bejahen. Keine „gute Sache“ mehr, der wir dienen müssen. Nicht mal ein verbindlicher Gott, der Gehorsam fordert. Ideologie-Entronnene, erst recht DDR-Geborene können das schätzen.

Wovor sich fürchten, wenn nicht vor einem neuen Ideal? Natürlich sind Ideologie-Entronnene meist schon etwas älter. Man könnte auch sagen: Sie haben es hinter sich. Die Selbstfindung. Die Weltfindung. Das Ideal. Menschen, die alles hinter sich haben, unterscheiden sich sehr von denen, die noch alles vor sich haben. Kein Unterschied ist größer.

Und lässt sich das denken: eine Jugend, so leer wie die Mitte unserer Gesellschaft? Darf man einen Text über Rechtsradikalismus so beginnen? Die bringen Menschen um, und wir reden über neueste Leeren und abwesende Ideale? Moralische Diskurse wollen nicht erklären. Moralische Diskurse haben keine Geduld. Und sie vertrauen einem am allerwenigsten – den nichtmoralischen Diskursen.

Gerade kam „Oi! Warning“ in die Kinos. Ein Film über Skins. Über Janosch, den Jungen vom Bodensee, der zum Skinhead wird. Ein nichtmoralischer Diskurs. In seinem Zentrum, sehr unsichtbar, die geheime Mitte der Gesellschaft. Sie spricht Schwäbisch wie Janoschs Mutter, mit aller Selbstzufriedenheit der Welt darin. Manchmal sieht sie auch aus wie ein Geschichtslehrer, den einzig Zynismus noch vor seinen Schülern schützt, und dann wieder wie der geschwätzige Kaufmann aus Hamburg, den die Skins grausam zusammenschlagen werden vorm Bahnhof.

Selbst wohlmeinende Kritiker haben die Zeichnung der Erwachsenenwelt im Film der Brüder Dominik und Benjamin Reding nicht verstanden. Denn es ist ein böser, grotesker Blick. Eine Karikatur. Die Kamera zeigt jene, die schon alles hinter sich haben, aus der Perspektive derer, die noch alles vor sich haben. Sie erblickt – streng genommen: nichts. Oder eben: das Nichts. Man kennt diesen Blick aus anderen Filmen übers Erwachsenwerden. Nur war er dort meist James-Dean-förmig.

Outside of society. Die Achtundsechziger und die Skins. Politisch nicht dasselbe. Wohl aber in der Suche nach den unbesetzten Räumen. Und in der Provokation. Jugend ist – zuerst – ein Dagegensein. Weil Jugend unschlichtbar ist. Sie ist ein Erfahrungsprozess, ein Man-selbst-Werden am Widerstand. Aber diese Gesellschaft ist wie alles Leere fast unangreifbar.

Es ist schwer, die großen Kapitalströme zu provozieren. Aber eine letzte offene ideelle Flanke hat diese Gesellschaft doch. Das Profaschistische, das Ausländerfeindliche. Die einzig wirkliche, also nicht integrierbare Gegenkultur ist rechts außen. Denn nur hier findet sich verfemtes Gebiet.

Der Rechtsextremismus in den Fußballstadien nehme deutlich zu, meldeten vor einem Jahr die Zeitungen. Und: Die Täter würden immer jünger. Weil es Mode sei, rechtsextrem zu sein. Die Feuilletons streiten, ob „Fremdenfeindlichkeit“, „Fremdenhass“ oder „Rassismus“ das zutreffende Wort ist. Sie denken nach über Wege der Aufklärung.

In Potsdam wurde jetzt eine Studie über jugendlichen Antisemitismus in Brandenburg und Nordrhein-Westfalen veröffentlicht. Danach können sich bis zu drei Viertel der Brandenburger Jugendlichen nicht vorstellen, einen Juden zum Freund zu haben. 29,5 Prozent haben eine antisemitische Einstellung, in Nordrhein-Westfalen sind es 11 Prozent. Interessant ist, dass die jungen Brandenburger ihren Antisemitimus nicht begründen können. Sie kennen die antijüdischen Vorurteile nicht. Anders als in Nordrhein-Westfalen werden Ressentiments nicht von Großeltern und Eltern weitergegeben.

Die Generationenkette der Vorurteile scheint gerissen zu sein. Die Untersuchung spricht von einem „geschichtslosen Antisemitimus“ der jungen Brandenburger. Er ist also – horribile dictu – ein Stellvertreterphänomen. Geschichtslos, schlagworthaft, geborgt und übernommen wie jede Mode letztlich. Ein Sündenbockphänomen. Wie soll man Fremdenhass bekämpfen, wenn er eigentlich Selbsthass ist? Gewissermaßen das Spiegelbild der Leere dieser Gesellschaft im Dasein derer, die ihr am wenigsten gewachsen sind.

Nicht gewachsen ihrer Virtualisierung. Nicht ihrer Beschleunigung. Nicht ihrer Intelligenz. Man weiß längst, dass es unter Skinheads viel weniger Begabte gibt als im Durchschnitt der Bevölkerung. Das mag die linke und rechte Protestkultur vielleicht am meisten voneinander trennen. Genau wie die Fähigkeit, zu träumen. Die Welt der Skins ist traumlos. Denn ihr fehlt das Wichtigste: Zukunft. Stattdessen nur Vergangenheit, die dunkelste obendrein.

Die Vorläufer der Skins waren die Mods der Sechzigerjahre, fast immer aus ärmeren Schichten stammend. Schon damals derselbe aggressive Gestus. Verlierer? Nein. Dann lieber vorsätzliches Barbarentum. Die Neuerfindung des Urmanns in der Hochzivilisation. Die Rettung der Männlichkeit. Und zwar einer, die Feinde braucht.

Dünn ist die Kruste der Zivilisation, die zwischen uns und unseren barbarischen Antrieben liegt. Jeder weiß das. Und doch steht diese Gesellschaft ratlos vor den Ausbrüchen der rechten Gewalt. Dabei sind, genau betrachtet, gar nicht die Rechtsradikalen das Phänomen, sondern wir selbst. Würde eine fremde Intelligenz nur unsere Fernsehprogramme kennen, sie hielte uns für eine Totschlägergesellschaft. Jeden Tag produziert das Fernsehen einen kleinen Friedhof der Gewaltopfer. Die einen halten das für eine spätkulturelle Verwilderung des Geschmacks. Die anderen sagen, die Skins ziehen nur die Konsequenzen aus unseren Fernseh- und Kinoprogrammen.

Es ist aber noch etwas anderes. Jeden Abend erholen wir uns von den Anstrengungen der Zivilisation. Von den Mühen der Friedfertigkeit, deren höchste, mündigste Organisationsform die Demokratie ist. Eben eine einzigartige Selbstdomestizierung ohne Gewalt. Man kann schon um solcher Erholung willen das Gewalthafte im Fernsehen nicht ganz abschaffen. Doch zu den Eigentümlichkeiten hoch zivilisierter Gesellschaften gehört auch, dass die Menschen grundsätzlich besser sind als ihre Fernsehprogramme. Mord und Totschlag auf dem Bildschirm bedeuten noch lange nicht Mord und Totschlag auf den Straßen. Es gibt eine unsichtbare Grenze zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir tun.

Diese kulturelle Schallmauer haben die Rechtsradikalen durchbrochen. Wie vor ihnen schon die Amokläufer. Auch die Opfer des Amokläufers sind zufällig. Nicht der Einzelne ist gemeint, es sind Stellvertreteropfer wie die des Rechtsradikalismus. Man kann keine Lichterketten gegen den Amoklauf bilden. Die martialische, selbst inszenierte Wut der rechten Jugendlichen mag beinahe eine kollektiv kontrollierte Vorform des Amoklaufs sein. Ein Gewaltexzess, pogromartig, wie ihn frühere Gesellschaften kannten. Der einen Augenblick von (im Doppelsinne) unheimlicher Befriedigung schafft und die innere Leere aufhebt.

Und zugleich ist es das Gegenteil des Amoklaufs. Einbindung des haltlosen Ich in eine feste Sinnwelt. In eine Bewährungswelt, die den Einzelnen aufnimmt und fordert, die ihn demütigt und aufbaut zugleich. Eine Urmännerwelt. Jugend, gerade männliche Jugend, braucht das Sichbeweisen, die Erfahrung der eigenen Kraft. Archaische Kulturen mit ihren Initiationsriten haben das immer ge-wusst.

Solche Selbsterfahrung darfnicht vonvornherein abgesichert sein. Demokratie aber ist ein anderes Wort für Absicherung. So betrachtet, ist Demokratie weiblich. Reden statt kämpfen. Jugend, auch die feinnervigere, hat ein sicheres Gespür für die undemokratischen, nicht ausdiskutierbaren Tatbestände des Lebens.

Existieren, in seiner Grundschicht, ist gewalthaft. Es gibt keinen demokratischen Sex. Es gibt keine demokratische Liebe. Es gibt keine demokratischen Krankheiten und keinen demokratischen Tod. Und es gibt keinen demokratischen Kampf. Vor allem aber: Rang und Akzeptanz werden nie demokratisch verteilt. Jeder muss erst erfahren, was er zählt. Darum sind Kinder- und Jugendwelten hierarchisch. Die der Jungen anders als die der Mädchen. Hegel nannte das den ursprünglichen Kampf um Anerkennung. Es ist die Herr-und-Knecht-Dialektik.

Viele entgehen ihrem Druck, weil sie schon früh aufbrechen in die Ersatzuniversen Wissen und Kunst. Deren Kämpfe sind von vornherein virtuell. Aber was geschieht mit den Handfesteren, die dort nie zu Hause sein werden? Denen die meisten Worte ohnehin überflüssig scheinen? Für die nur Leistungen zählen, die sich anfassen lassen und umrechnen in Körperkraft und Schweiß? Es sind die heute Schwachen.

Städte wie Eberswalde in Brandenburg sind gespalten in „links“ und „rechts“. Das „linke“ Neubaugebiet („Getto“) kämpft gegen das „rechte“ („Keksgetto“). Die ORB-Livesendung „Vor Ort“ blendete kürzlich eine brennende Stadtkarte ein, um zu zeigen, dass auch Königs Wusterhausen zweigeteilt ist. Eine Grafik, wie wir sie aus Kriegsregionen kennen. Die anwesenden Rechten hielten ihre kahl rasierten Hinterköpfe in die Kamera. Auf linke „Nazis raus!“- und „Arschloch!“-Rufe antwortete ein rechtes „Halt die Schnauze!“ Später nahm die Polizei – live – zwei Rechtsradikale fest. Die Moderatorin wendete immer wieder den drohenden Eklat ab. Ein Vertreter der Aktion „Tolerantes Brandenburg“ fand die ganze Sendung verfehlt, weil hier an und mit Jugendlichen ausgetragen werde, was in Wirklichkeit ein Erwachsenenproblem sei. Aber das stimmt nicht. Denn in Königs Wusterhausen und anderen Städten Brandenburgs ist ein Pubertätskonflikt – jugendliche Bandenbildung – offen kriminell geworden.

Solche Stadtteilkämpfe sind die Fortführung des pubertären Bandenkriegs unter den Bedingungen gesellschaftlicher Verwilderung. Auch die Ideologien sind geborgt, schon weil es keine wirklich gegenwärtigen mehr gibt. Und weil vielleicht jede Jugend einen schützenden Ideenhimmel braucht, aber nicht jede sich ihren eigenen schaffen kann. Darum kann man Antisemit sein, ohne zu wissen, was es bedeutet.

Die proletarische Kultur verschwindet. Die heute gültige Welt ist nicht mehr anfassbar. Internet, Geld- und Kapitalströme, die Hauptschlagadern des modernen globalen Kreislaufs, sind unsichtbar. Moderne Demokratien sind rechtsförmig geregelt. Einem Rechtsempfinden, dem „Recht“ noch immer direkt von „Rache“ kommt, muss das wie Ausflucht scheinen. Die Entsubstanzialisierung – oder wie Arnold Gehlen sagt: das Verdampfen aller Bestände – erreicht einen neuen Höhepunkt.

In den rechten Parolen findet der antikapitalistische Affekt, genauer: der Antivirtualisierungsaffekt eine Heimat. Es ist ein Affekt der Ursprünglichkeit. Er steht ein für das Handfeste. Aufklärung? Manchen müsste man erklären, dass sie, obwohl materiell versorgt, nicht mehr vorkommen in dieser sich atemlos modernisierenden Welt. Körperlich schon, seelisch nicht. Ihr Weltempfinden ist obsolet.

Vielleicht muss man wieder über Dinge reden, von denen eine stille Übereinkunft sagt, dass man über sie nicht reden darf. Über „Ursprungsmächte“ zum Beispiel. Die Nazis nannten sie „Blut und Boden“. Aber dieselbe Sache ließe sich auch mit Karl Marx beschreiben. Dann heißt sie „Ursprüngliche Akkumulation“, massenhafte Loslösung der Bauern von ihrer Scholle zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Proletarisierung der Bauern. Marx nannte sie doppelt freie Lohnarbeiter. Sie waren frei, sich zu verkaufen. Vor allem aber – ohne Boden. Wörtlich: bodenlos. Wurzellos. Viele sahen darin damals eine kaum überlebbare Katastrophe der Kultur.

Wird die menschliche Gesittung das tragen?, hatte man gefragt. Wir haben diese Wahrnehmung vergessen, weil der Fortschrittsglaube das Katastrophische überglänzte. Die Entstehung des Proletariats war die erste Entwurzelung. Marx reagierte darauf mit dem Versuch, das plebejische Element mit dem der Aufklärung zu verbinden. Das war der Kern der sozialistischen Idee.

Das Verschwinden des Proletariats, das wir heute erleben, ist eine zweite Entwurzelung. Die Ohnmacht der Handfesten. Die Aufklärung, also die Kultur des Wissens, technisch, demokratisch, zieht allein weiter. Sie löst sich von den Schichten, die sie im Industriezeitalter trugen. Das Volkshafte, Plebejische fällt immer mehr heraus aus der modernen Welt. Die Frage ist, ob die Conditio humana auch diese zweite Entwurzelung der Unmittelbarkeit aushält. Oder ob sie mit den Einsprüchen, nein, mit den Einfällen des Neubarbarentums rechnen muss. Das NPD-Verbot bleibt dem äußerlich.

PS: Der Film „Oi! Warning“ lief drei Jahre lang auf Festivals. Er gewann viele Preise. Er fand erst jetzt einen deutschen Verleih. Die Filmbewertungsstelle gestand ihm nicht einmal das Prädikat „wertvoll“ zu. Weil er auf die ideologische Geste verzichtete, stand er unter Ideologieverdacht. Rechtes Sympathisantentum? Der Verdacht sagt alles über die Verdächtiger, nichts über diesen herausragenden Film.

KERSTIN DECKER, 37, lebt als Autorin in Berlin. Zusammen mit Gunnar Decker veröffentlichte sie kürzlich das Buch „Gefühlsausbrüche oder Ewig pubertiert der Ostdeutsche. Reportagen, Polemiken, Portraits“. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2000, 319 Seiten, 29,90 Mark