Statistisch jedeR 3.885. IsländerIn

Das rege Interesse des Berliner Publikums an den isländischen Literaturtagen in der Literaturwerkstatt Pankow überraschte manchen isländischen Autor

von WOLFGANG MÜLLER

„Ich hatte eigentlich eher mit etwa zehn Besuchern gerechnet“, verriet später der Autor Gudbergur Bergsson, der in der Pankower Literaturwerkstatt seinen neuen Roman „Liebe im Versteck der Seele“ vorstellte. Tatsächlich waren zu den Isländischen Literaturtagen eigentlich immer alle Stühle besetzt, täglich fünfzig bis über hundert Besucher erschienen. Dabei geriet die angekündigte kurze Einleitung etwas aus den Fugen. Gudbergur Bergssons zukünftiger Übersetzer Karl Ludwig Wetzig referierte lange über die Geschichte der isländischen Literatur, den Literaturbetrieb und korrigierte, dass Island nicht 250.000, wie die spanische Zeitung El Pais meint, sondern 272.000 Einwohner hätte.

Seine Begeisterung indes hielt ihn nicht davon ab zu behaupten, dass im isländischen Expo-Pavillon die Namen aller, die je auf Island gelebt haben, auf eine Videoleinwand projiziert worden seien. Das seien über zwei Millionen Namen gewesen. Tatsächlich wurde das im Pavillon kundgetan, die Isländer können ihre Familienstammbäume bis zur Besiedlung im Jahr 850 zurückverfolgen. Aber es war natürlich nur eine kleine Auswahl von Namen aufgenommen worden. Die Videos wurden oft zurückgespult.

Also, auch die Isländer sind keine Engel, vielleicht doch eher ambivalente Geschöpfe – wie Elfen, was ja sehr sympathisch ist. Gudbergurs Roman habe mit der gesellschaftlich immer noch geächteten gleichgeschlechtlichen Liebe zu tun, meinte Karl Ludwig Wetzig. So finde sie abgedrängt in dunklen Kellern statt. Die Betonung eines überraschend nebensächlichen Aspekts. Es geht in Gudbergurs Roman nämlich nicht um ein verhindertes Coming-out, um eine geächtete Minderheit, sondern darum, etwas zu tun, was keiner auch nur ahnt. Das kann in einer sehr überschaubaren und gleichzeitig sehr liberal gesinnten Gesellschaft viel mit dem Gefühl von Freiheit, Macht und Überlegenheit zu tun haben.

Die kürzlich erfolgte Einrichtung eines so genannten Darkrooms im Clubhaus der schwulen Ledermänner in Reykjavík ist jedenfalls nicht die Folge oder ein Indiz zunehmender repressiver Unterdrückung, sondern eine Möglichkeit mehr, im tag- und nachthellen isländischen Sommer auch im Dunklen relativ anonymen Sex zu machen.

Die vor wenigen Monaten erfolgte Einrichtung eines isländischen Sexversandes unter der Ausnutzung des Landescodes www.pen.is könnte dagegen als ein Indiz auf die Lust der Isländer am Wortspiel auch im Internetzeitalter gedeutet werden – übrigens wurde die Seite www.klitor.is auf Grund heftiger Proteste kürzlich gesperrt. Jedenfalls kam dann schließlich auch noch Gudbergur Bergsson selbst zu Wort und sprach prompt über Elfen. „Wenn man in ein Land kommt, wo keiner wohnt, dann wohnen da Elfen. Die Europäer, die nach Amerika kamen, dachten wohl, die Indianer wären Elfen. Immer, wenn man in ein fremdes Land kommt, Unbekanntes sieht, trifft man also Elfen.“

Insgesamt wesentlich entspannter verlief der folgende Tag, wunderbar inszeniert von Vigdís Grímsdóttir, Kristín Ómarsdóttir und Soffía Gunnarsdóttir. Die Literaturwerkstatt verwandelte sich in eine Lounge Bar, gelegentlich klimperten zwei Herren charmant in und zwischen die Texte der Autorinnen, die Kieler Lektorin Magrét Pálsdóttir führte mit erfrischender Verve durch den Abend. Bemerkenswert Kristín Ómarsdóttirs Rezept für Zitronenbrust: man schneide eine Zitrone in zwei Hälften und träufle den Saft einer Hälfte auf die Brustwarze der Freundin.

Hier bestätigte sich die alte deutsche Volksweisheit: Sauer macht lustig. Schließlich wurde mit „Sounds & Szene“ ein Abstecher in den klassischen Underground und die aktuelle Popkultur vollzogen. Zwar ist Islands Kultstar Megas, Jahrgang 1945, eigentlich nur im Land selbst ein lebender Mythos. Doch für viele der auch international bekannten Musiker wie Móa und Björk ist der bärtige Barde mit den großen Ohren der Impulsgeber für eine eigenständige isländische Popmusikkultur. Seine Songs brachte Altmeister Megas mit einer elektrisch verstärkten Gitarre zu Gehör, dazu gurgelte, seufzte und schlingerte er seine Texte vor das vorwiegend isländische Publikum. Auch wenn sich seine Songtexte, in denen sich viele Sprachspiele verbergen, wohl schwer übersetzen lassen, war doch sein Vortrag sehr eigenwillig und eigenartig, kurz: hörens- und sehenswert.

Für alle, denen der Weg nach Pankow zu weit war, gibt es die Möglichkeit, noch bis zum 16. November im Kino Arsenal verfilmte Literatur aus Island zu hören und zu sehen. Darunter den Klassiker von Frídrik Thór Frídriksson „Children of Nature“, der die Flucht eines Bauern aus einem tristen Altersheim erzählt. Er stiehlt einen Jeep und fährt mit seiner Jugendliebe in die Westfjorde, das Land seiner Kindheit. Ein sehr romantischer isländischer „Road-Movie“, der für einen Oscar nominiert wurde. Vom gleichen Regisseur stammt auch die „Teufelsinsel“ nach dem Buch von Einar Karason. In einer ehemaligen US-Militärsiedlung in Keflavik leben Obdachlose unter miserablen Bedingungen. Einer scheint es dennoch geschafft zu haben: Baddie. Seit seinem Aufenthalt in den USA sind Coca-Cola und Elvis für ihn das Größte. Doch nun ist er wieder da. Frustriert trinkt und pöbelt er herum und spannt seinem Bruder die Freundin aus.

Die Regisseurin Gudny Halldórsdóttir schließlich hat im letzten Jahr eine Novelle des 1998 verstorbenen Literaturnobelpreisträgers Halldór Laxness verfilmt. „Honour of the House“ ist eine Familiensaga von ungleichen Schwestern. Ich kenne den Film leider noch nicht, aber erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass die Regisseurin die Tochter von Halldór Laxness ist. Wer aber partout nicht ausgehen will, lieber zu Hause herumsitzt und dem herumfliegenden Herbstlaub nachschaut, bestellt einfach die neueste Ausgabe von „die horen“. Die Anthologie „Wortlaut Island“ (Verlag für Neue Wissenschaft, 334 S., 39,80 DM) bietet mit Texten siebzig isländischer Autoren einen interessanten Querschnitt durch das aktuelle schriftstellerische Schaffen im Land. Fast alle der in der Literaturwerkstatt Lesenden sind darin vertreten. Statistisch gesehen hat jedeR 3.885. IsländerIn daran teilgenommen – und ein Deutscher. Der in Island wohnende Berliner Künstler Bernd Koberling hat dem Band einige seiner zarten, wunderschönen Aquarelle beigesteuert.