Neue Firmen braucht das Land

McKinsey-Studie fordert radikales Umdenken in der Beschäftigungs- und Standortpolitik des Landes. 400.000 Arbeitsplätze und innovative Branchen als Perspektiven für wirtschaftlichen Aufschwung

von ROLF LAUTENSCHLÄGER

Der Beschäftigungs- und Wirtschaftsstandort Berlin muss sich in den kommenden Jahren radikal verändern, will das Land nicht noch tiefer ins wirtschaftliche Abseits schlittern. Notwendig für einen Aufschwung sind Firmengründungen in großem Stil für 400.000 neue Arbeitsplätze, innovative Produkte und Dienstleistungen. Zugleich muss das Land Berlin seine Leitlinien in der Ansiedlungspolitik, etwa in Adlershof, überdenken und mit einem konsequenten Konzept etablierte und neue Wachstumsbranchen, Ausbildung und Zielgruppen fördern. Die international tätige Unternehmensberatergruppe McKinsey & Company kommt in einer Studie „Konzept für einen Neuen Standort Berlin“ zu diesem Ergebnis und hat ein Szenarium für die wirtschaftliche Zukunft der Stadt erarbeitet.

Ausgangspunkt der Analyse ist, dass sich die Stadt am Tabellenende bundesdeutscher Wirtschaftsregionen befindet. Verantwortlich für die ungebremste Talfahrt, so McKinsey-Mitarbeiter Jens Bernotat, seien zum einen ein Wachstum von nur 0,1 Prozent bei den Beschäftigten (1998) und der sich verschärfende nationale und internationale Standortwettbewerb. Hier könne Berlin nicht mithalten. Unter den gegenwärtigen Bedingungen, so die McKinsey-Studie, „ist ein Absinken der Arbeitslosenquote (von derzeit 15,8 Prozent) nicht zu erwarten“. Das Land könnte bis 2007 sogar 20.000 Arbeitsplätze verlieren.

Zum anderen, analysiert die Studie, führt der Mangel an innovativen Firmen und Projekten zu erheblichen Beschäftigungslücken, die dem Image einer zukunftsfähigen Hauptstadt nicht angemessen seien. Im Vergleich zu München, wo rund 24 Prozent der Beschäftigten in den Wachstumsindustrien Software/Internet, unternehmensnahe Dienstleistungen, Kultur und Medien arbeiteten, waren es in Berlin 1999 nur 16 Prozent. In den so genannten zukünftigen Wachstumsbranchen, wie Neue Medien, Umwelt- und Biotechnologie, Medizintechnik oder E-Commerce, sind bis dato nur 0,7 Prozent der Arbeitnehmer tätig.

Am Wissenschaftsstandort Adlershof etwa, konstatiert Bernotat, seien diese „Boombranchen“ kaum vorhanden. Berlin rangiere auf „Platz 65 unter Deutschlands attraktivsten Existenzgründerregionen“. Demzufolge sehen nur „6 Prozent der Führungskräfte die Wirtschaftskraft als Stärke Berlins“.

Dennoch gibt McKinsey der Hauptstadt eine Chance: Will die Stadt bis 2007 das Defizit gegenüber vergleichbaren deutschen und internationalen Wachstumsregionen aufholen, müsse politisch eine „klare Fokussierung auf innovative Gründungen“ stattfinden: etwa in der Hard- und Softwareindustrie für 88.000 Arbeitsplätze, in der Medienbranche für 42.000 oder in der Medizin- und Biotechnik für 33.000 zusätzliche Arbeitsplätze – ein fast aussichtsloses Unterfangen angesicht der Angebotslücke von 160.000 Plätzen sowie des Standortnachteils gegenüber etwa München oder Hamburg. In München und Hamburg beispielsweise sind fast 48.000 Menschen für Medienunternehmen tätig, in Berlin 19.600.

Gleichzeitig müssten „die Hebel zur Förderung von Gründungen“ – etwa durch finanzielle, steuerliche und Flächenangebote – angewandt und politisch gewollt werden. Neben der Revitalisierung industrieller Kerne sei es notwendig, Firmen durch Vernetzung zu komplexen „Hochleistungsstandorten“ auszubauen. Schering könnte so mit anderen Unternehmen zu einem „europäischen Nummer-eins-Biotech-Cluster“, Sony sowie Siemens könnten zu Marktführern für neue Medien und elektronische Technologien werden.

Hinzu addiert McKinsey junge Wachstumsunternehmen auf innerstädtischen Standorten wie Pixelpark, eBay, Econa oder Aperto, die mit Talenten und neuen Ideen als „Wachstumsmotoren“ für eine Dynamik auf dem Standort- und Arbeitsplatzmarkt sorgten.

Im Senat nimmt man – trotz Selbstbespiegelung, der Einrichtung eines Standortmarketings, eines Medienbeauftragten oder des Gründerzentrums beim Wirtschaftssenator – die McKinsey-Studie ernst. Bausenator Peter Strieder (SPD), auf dessen Stadtentwicklungrunde „Stadtforum“ der Report vorgestellt wurde, will die Studie von seiner Verwaltung prüfen lassen. Auch der am Wochenende eingerichtete Zukunftsfonds für neue Wachstumsbranchen bestätigt die Stoßrichtung von McKinsey. Wirtschaftssenator Wolfgang Branoner (CDU) stellt über 300 Millionen Mark für junge Firmen zur Verfügung.