Mutmaßungen über Gesine

Aus dem Leben eines Fernsehvierteilers: Mit der Verfilmung von Uwe Johnsons „Jahrestagen“ beschwört die ARD die Katze Erinnerung. Mecklenburg kommt hier packender daher als New York

von STEFFEN GRIMBERG

Zu diesem Buch sollte es eigentlich gar nicht kommen. „Ich hatte dreieinhalb Bücher geschrieben, hatte meist in Deutschland gelebt und hatte Gründe, einen Abschied, eine Pause, zu wünschen. So ging ich also umher und fragte, ob sie Arbeitsplätze zu vergeben hätten in Amerika und ob sie mir einen ablassen würden.“

Sie ließen, und es wurde ein Abschied des Erinnerns, der peinlich genauen Rekonstruktion eines parallelen Lebens und keine Pause: Die „Jahrestage – Aus dem Leben der Gesine Cresspahl“, von Uwe Johnson im Januar 1968 in New York begonnen, angelegt auf die 366 Tage vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968, beendet erst im April 1983, umfassen viel mehr als dieses eine Jahr: den Entwurf einer Familie zwischen den Deutschlands nämlich, von den 20er-Jahren bis zu jenem 20. August bald 50 Jahre später, eine Lebensbeschreibung in 366 Tagen vom Riverside Drive in New York, schließlich eine knappe Chronik des Jahres aus den Spalten der New York Times, vom fernen Krieg in Vietnam bis zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in den Prager Frühling.

Auch zu diesem Film, schien es, sollte es eigentlich gar nicht kommen: Von Johnsons Verleger Siegfried Unseld gleich nach der deutschen Vereinigung angeregt, 1991 vom WDR für vorläufig gescheitert erklärt, 1994 wieder aus der Versenkung geholt, 1998 kurz vor Drehbeginn am Streit um den zunächst vorgesehenen Regisseur Frank Beyer und den beteiligten Produktionsfirmen und Sendern zerbrochen, war das Projekt ARD-intern schon ein weiteres Mal abgeschrieben. Der Ostdeutsche Beyer wurde ausgebootet und durch die Westdeutsche Magarethe von Trotta ersetzt. Kein gutes Omen. Die „Jahrestage“ knüpfen dennoch nahtlos an an die großen epischen Erzählungen des deutschen Fernsehens, an Strittmatters „Laden“ und vor allem an „Heimat“.

Denn es geht um Geschichte, Familiengeschichte: Die elfjährige Marie Cresspahl drängt ihre Mutter Gesine, sie ihr endlich und ungeschminkt zu erzählen, von ihrem Vater, den sich nicht kennt, an erster Stelle. Gesine, in einem kleinen Nest in Mecklenburg 1933 geboren, hatte Mitte der 50er-Jahre die noch junge DDR verlassen und arbeitete als Fremdsprachensekretärin für eine Bank in Düsseldorf, die sie 1961, im Jahr des Mauerbaus, an ein befreundetes New Yorker Geldinstitut auslieh – ein Abschied auf Dauer: Für immer haben sich Gesine und Marie in New York niedergelassen, am nicht allzu wohlhabenden Riverside Drive in Manhattan, umgeben von anderen Heimatlosen.

Doch vor dem Vater steht der Großvater, Heinrich Cresspahl, aus England heimgekehrter Tischler in Jerichow: Marie muss sich in Geduld fassen, und der Film entfaltet wie das Buch ein episches Doppelleben, zwischen New Yorker Alltag und mecklenburgischer Vergangenheit. Dass dem Vierteiler hier eine glaubwürdige Verbindung gelingt, Übergänge geschaffen werden zwischen einer Vergangenheit und einer Gegenwart, die für uns heute auch schon wieder längst vergangen ist, macht den Film aus. Denn es gibt in den „Jahrestagen“ keine Höhepunkte, die sich nach fernsehgerechter Umsetzung drängen, sondern nur das stete Hin und Her zwischen der mecklenburgischen Provinz wärend der NS-Diktatur und der frühen DDR und dem New York der Swinging Sixties.

Wobei Mecklenburg farbiger und packender daherzukommen scheint als das statisch wirkende New York, in dem Gesine (Suzanne von Borsody) für Marie (Marie Helen Dehorn) die „Katze Erinnerung“ (Johnson) beschwört: eigen-, ja manchmal unwillig beschwört, schnörkellos und grundehrlich bis zur Schmerzhaftigkeit. Wenn Heinrich Cresspahl (Matthias Habbich) nach dem Selbstmord seiner Frau, die das Schuldigwerden an den alltäglichen Verbrechen des NS-Regimes nicht mehr ertragen kann, mit dem Pastor Brüshaver um ein christliches Begräbnis für seine Lisbeth ringt, gehört das in seiner Trotzigkeit und Verzweiflung zu den stärksten Szenen des Films – „Du musst sie da rausholen“, sagt die kleine Gesine bei der Beerdigung vor der offenen Grube zum Vater.

Und bei aller Auflockerung der Handlung durch den um die New Yorker Gesine werbenden Dietrich Erichson, einen Exmecklenburger im Dienst der Nato und des American Way of Life: Die „Jahrestage“ sind eine Reise an den Ort, wo die Toten sind. „Mein Vater, der ist tot, das ist das Einzige, was ich von ihm weiß“, versucht Marie zu Anfang der zweiten Folge die chronologische Erzählweise ihrer Mutter zu durchbrechen: „Immer derselbe Shit, das sind keine schönen Geschichten.“ – „Es sind auch keine schönen Geschichten“, gibt Gesine zurück.

Diese tragische Grundstimmung wäre genug, den Film auf hohem Niveau scheitern zu lassen. Dass es dazu nicht kommt, hat viel mit den Frauenfiguren zu tun. Suzanne von Borsody, nach der zunächst vorgesehenen Julia Jäger erst spät zur Hauptrolle gekommen, verkörpert Gesine mit einer selbst in ausgelassenen Szenen dickköpfigen Sprödigkeit, die so ganz im Gegensatz zu den intimen Details steht, die sie ihrer Tochter im Laufe der Geschichte offenbart.

Und doch ist hier nichts gekünstelt, auch nicht in der „modernen“ Erziehung durch die allein stehende Mutter, die die Institution Ehe ablehnt. Marie Helen Dehorn spielt die Tochter mit einer Natürlichkeit, die aus der filmischen Gegenwart der 60er-Jahre mühelos ein Hier und Jetzt werden lässt. Sie spricht ungeniert aus, was sich ihre Mutter nur zu denken traut: Als beide in der Villa von Gesines Bankerchef, de Rosny, geladen sind, weil der Gesine zu einer Reise in die sich wandelnde ČSSR überreden will, fragt ihn Marie auf den Kopf zu, was seine Bank am Krieg in Vietnam verdiene.

Um die „Jahrestage“ überhaupt verfilmbar zu machen, hat Johnsons Vorlage zurücktreten müssen. Die New York Times, im Roman unbestechliche Instanz zur tagtäglichen Bewertung der Zeitläufte und Orientierungspunkt für die amerikanische „Dschei-saini“, kommt nur am Rande vor. Dafür sind in die Mecklenburger Handlungsstränge viele Elemente aus Johnsons früheren Büchern eingewoben, ohne die sich eine vollständige Geschichte der Gesine Cresspahl nicht erzählen lassen würde.

Trotz dieser Vereinfachungen blieb das Projekt Wagnis genug: Die „Jahrestage“ mit ihren bald 2.000 Seiten sind ein Mythos, den auch ihr Autor nicht lange überlebt hat (Johnson starb Anfang 1984, noch keine 50 Jahre alt). Sie sind sperriger als andere gelungene zeitgeschichtliche Literaturverfilmungen wie der „Laden“ und vielschichtiger, schwieriger als Edgar Reitz’ „Heimat“.

Die Entfernung von der literarischen Vorlage hätte auch Uwe Johnson gutgeheißen. Ganz am Ende der „Jahrestage“ trifft Gesine an einem Strand in Dänemark ihren ehemaligen Englischlehrer aus Jerichow, der noch einmal den Kreis aller Handlungen schließt: „Ihr Vater hat mir die Ehre seiner Freundschaft erwiesen. Eine seiner Auffassungen ging dahin: Geschichte ist ein Entwurf.“

„Jahrestage“ läuft am 14., 16., 21. und 22. 11. in der ARD