Der keltische Tiger

Iren gibt es überall. Kein Wunder: Für die Chance auf ein gutes Leben musste man jahrhundertelang von der Grünen Insel auswandern. Heute aber stellt Intel seine Chips hier her, die Wirtschaft boomt. Also wird Irland selbst zum Einwanderungsland. Woran die Iren allerdings recht wenig Freude finden

von RALF SOTSCHECK

Der Apfelsinenverkäufer in der Obsthalle am Dubliner Smithfield-Markt schüttelt bedauernd den Kopf. „Kupfermünzen nehmen wir nicht mehr“, sagt er und schiebt die Pennies wieder zurück über den Tresen. „Das lohnt sich nicht, die Banken nehmen Gebühren, um das Kleingeld zu wechseln. Für mich ist es wertlos.“ Der Obst- und Gemüsemarkt, wo die Ware billiger ist als in den Supermärkten, gehört eigentlich zum alten Dublin, wo man Kupfergeld noch genommen hat, doch seine Hallen werden bald modernen Apartments weichen.

Smithfield, früher das Kleine-Leute-Viertel mit schmalen Gassen und Backsteinhäuschen, ist das neueste Sanierungsviertel der irischen Hauptstadt. Der Platz hat ein neues Kopfsteinpflaster und moderne Bogenlampen bekommen, und auf dem gut einen halben Hektar großen Gelände einer ehemaligen Whiskey-Brennerei gegenüber der Markthalle ist eine andere Welt entstanden: „Smithfield Village“ mit einem hochtechnologischen Musikzentrum, einem Luxushotel, einer Einkaufspassage, einem Thai-Restaurant, 200 Apartments und dem zum Aussichtsturm umgebauten Schornstein der Brennerei, an dem ein gläserner Fahrstuhl hochsaust.

Es ist fast unvorstellbar, dass bis vor wenigen Jahren auf den Brachflächen in der Innenstadt Ziegen grasten, nur dreihundert Meter vom Smithfield-Markt entfernt. Inzwischen ist Baugelände im Zentrum kaum noch zu bezahlen. Irland boomt, und nirgendwo ist der „keltische Tiger“, wie das irische Wirtschaftswunder genannt wird, so sichtbar wie in der Hauptstadt. Der Grundstein für den Aufschwung wurde 1987 gelegt. Damals schlossen Gewerkschaften, Arbeitgeber, Bauern und Staat einen Sozialpakt, in dem sie Steuersenkungen, aber nur geringfügige Lohnerhöhungen vereinbarten – was freilich nicht für viele Politiker galt, die sich durch Bestechungsgelder in Millionenhöhe bereicherten, während sie der Bevölkerung Maßhalten verordneten. Der Sozialpakt galt zunächst für drei Jahre, wurde dann aber verlängert.

Gleichzeitig lockte die Industrieansiedlungsbehörde multinationale Konzerne mit niedrigen Körperschaftssteuern und schlüsselfertigen Fabriken nach Irland. Hightech-Konzerne wie Intel und Gateway 2000, Microsoft und IBM, Dell und Lotus eröffneten Niederlassungen in Irland, Lufthansa, American Airlines und Korean Air haben ihre europäischen Buchungszentren auf die Grüne Insel verlegt, der Bankenmulti Citibank baut gerade eine neue Großfiliale. Die ausländischen Firmen tragen heute fast zur Hälfte zum Bruttoinlandsprodukt und zu 60 Prozent zu den Exporten bei.

Seit 1987 ist das Durchschnittseinkommen von 10.000 Pfund auf 16.000 Pfund gestiegen. Die Arbeitslosenrate liegt mit 5,8 Prozent nur noch ein Drittel so hoch wie damals, die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist auf 1,6 Prozent gesunken. In den Zeitungen nehmen die Stellenanzeigen mehrere Seiten ein. Vor allem in der Informationstechnologie und im chemischen Bereich liegt Irland in Europa mit an der Spitze. 40 Prozent der Computersoftware, die in Europa über den Ladentisch geht, ist in Irland hergestellt, Intel produziert seine Chips auf der Grünen Insel, und Pfizer stellt den Grundstoff für Viagra her.

Sean O’Donoghue, ein 27-jähriger IT-Experte, wollte eigentlich in die USA auswandern, wie so viele Iren vor ihm, hat sich aber dagegen entschieden. „In Irland sind die Löhne zwar niedriger, aber die Lebensqualität ist besser.“ Gleich darauf relativiert er das jedoch: „Die Zahl der Autos hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt, Dublin steht kurz vor dem Verkehrsinfarkt.“ Hinzu kommt, das Wohnraum in Dublin für Berufsanfänger unerschwinglich ist, nur in den Niederlanden sind Häuser in den Städten noch teurer. Da der öffentliche Nahverkehr für eine Großstadt mit einer Million Einwohnern völlig unzureichend ist, wälzt sich jeden Morgen eine riesige Blechlawine aus einem Umkreis von hundert Kilometern in die Dubliner Innenstadt und abends wieder hinaus.

O’Donoghue wohnt mit seiner Frau Marie in Kells, einer Kleinstadt 40 Kilometer nordwestlich von Dublin. „Dasselbe Haus hätte in Dublin eine Viertelmillion Pfund gekostet“, sagt Sean, „hier haben wir nicht mal die Hälfte dafür bezahlt.“ Aber morgens braucht er eine Stunde zur Computerfirma, bei der er angestellt ist, nach Hause oft noch länger. Marie arbeitet als Lehrerin in Nord-Dublin. 1987 war nur gut ein Drittel der irischen Frauen berufstätig, heute ist es fast die Hälfte. Das hängt nicht nur mit dem neuen Selbstbewusstsein der Frauen und dem schwindenden Einfluss der katholischen Kirche zusammen, die Frauen am liebsten immer noch an den Herd verbannen würde, sondern auch mit der Notwendigkeit: Löhne und Gehälter sind niedrig, die Preise hoch.

Maßnahmen gegen die Armut: nicht vorgesehen

Der Wirtschaftsboom und die damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen sind über Irland rasant hereingebrochen. Den Weg, für den andere Länder Generationen brauchten, hat Irland in gut zehn Jahren zurückgelegt. Bei dem Tempo können manche nicht mithalten und bleiben auf der Strecke. Mehr als ein Fünftel aller Iren lebt unter der Armutsgrenze, so hat das Nationale Wirtschafts- und Sozialforum ermittelt. Das Forum macht die Regierungspolitik dafür verantwortlich: Im Entwicklungsplan sind Maßnahmen gegen die Armut nicht vorgesehen.

Schuld seien aber nicht nur die Politiker, findet Sean. Was ihn am meisten am neuen Irland stört, sind die Veränderungen seiner Mitbürger, die mit dem Boom einhergegangen sind. Der Umgangston sei rüder geworden, beklagt Sean, bei den früher so hilfsbereiten Iren habe sich Egoismus breit gemacht: „Die Großfamilie, die sich traditionell um Problemfälle in der Verwandtschaft gekümmert hat, gibt es immer weniger.“ Und früher, so fügt er hinzu, lagen die Iren bei jeder internationalen Spendenaktion weit vorne, wenn man es auf die Bevölkerung umrechnete. Das ist heute längst nicht mehr der Fall.

Am schlimmsten aber sei der Rassismus, der seit ein paar Jahren offen zutage trete, meint Sean: „Millionen Iren sind im 19. Jahrhundert vor der Hungersnot in die USA, nach Australien und nach England geflohen. Sie haben nur überlebt, weil man sie dort aufgenommen hat. Das scheinen viele meiner Landsleute zu vergessen.“ Es sind keineswegs Skinheads, die in Irland ihr rassistisches Unwesen treiben, Ausländerfeindlichkeit ist quer durch alle Altersgruppen und Berufsschichten verbreitet. Neulich ist ein Busfahrer verurteilt worden, weil er einen schwarzen Mitbürger als „Nig-nog“ beschimpfte und ihm nahe legte, er solle „nach Hause verschwinden“. In Dublins Parnell Street demolierten angetrunkene Kneipengänger ein schwarzafrikanisches Geschäft, in der Pearse Street wurde ein weißer Engländer niedergestochen, weil er seiner schwarzen Frau beistand, in Waterford haben Jugendliche einem nigerianischen Flüchtling das Nasenbein gebrochen, in Tipperary ging ein Asylbewerberheim in Flammen auf. Zwischenfälle wie diese kommen fast täglich vor, jeder fünfte schwarze Asylbewerber ist bereits Opfer eines Angriffs geworden.

„Ich fahre mit dem Auto zur Arbeit“, sagt Dr. Pauline Chiwangu, Dozentin an der Universität Cork. Die in Tansania geborene Frau lebt seit zehn Jahren in Irland. „Als Schwarze durch die Straßen dieses Landes zu laufen ist ein Albtraum. Du bist keine Stunde unterwegs, ohne dass dir jemand sagt, du verdammte Schwarze sollst in dein eigenes Land abhauen.“ Chiwangu meint, man solle weniger über Asylbewerber debattieren als überlegen, was man für die irische Bevölkerung tun könne, um ihr den plötzlichen Übergang zu einer multikulturellen Gesellschaft zu erleichtern.

Obwohl sie einen irischen Pass hat, geht sie am Flughafen bei der Einreise nach Irland stets durch die Kontrolle für Nicht-EU-Bürger. „Sie halten mich ja doch an und durchsuchen mich“, sagt sie. „Für die werde ich immer eine Ausländerin sein.“ Auch im Connolly-Bahnhof in Dublin, wo die Züge aus Nordirland ankommen, winken Einwanderungsbeamte vor allem schwarze Menschen zur Kontrolle heraus. Und der Abgeordnete Jackie Healy-Rae verteidigte seinen Sohn, einen Stadtverordneten, der Asylsuchende als „Schmarotzer, Gesindel und Strolche“ bezeichnet hatte. Dabei ist die Zahl der Asylbewerber, verglichen mit anderen europäischen Ländern, verschwindend gering: Sie beträgt gerade mal 0,2 Prozent der Bevölkerung.

James Joyce und die stinkende Liffey

Von dem Aussichtsturm am Smithfield-Markt kann man die ganze Stadt überblicken, bis hin zu Baukränen im alten Hafen im Osten. Paolo Foley öffnet die Hintertür seiner Werkstatt für Theaterkulissen, man tritt auf eine schmale Betonbrüstung direkt über der Liffey. „Anna Livia Plurabelle“, so hat James Joyce den Fluss genannt, der durch seine Heimatstadt fließt. Heutzutage haben die Dubliner einen anderen Namen dafür: „Sniffy Liffey“, die stinkende Liffey.

Jahrzehntelang hat man den Fluss vernachlässigt, er wurde als Müllkippe missbraucht, die Gebäude an den Uferstraßen verkamen, die Menschen zogen weg. Jetzt soll alles anders werden. „Nächstes Jahr reißen sie unsere Werkstatt und die anderen ehemaligen Lagerhäuser am Fluss ab“, sagt Paolo Foley. „Stattdessen wird eine Uferpromenade angelegt. Bis vor 30 Jahren wurden hier noch Rinder verladen.“ Einige der Rampen, über die man die Tiere auf die Schiffe getrieben hat, ragen noch von der Betonbrüstung hinter seiner Werkstatt auf die Liffey hinaus. Vor dem Eingang von Foleys Werkstatt steht das alte Liverpool- Hotel, ein roter Backsteinbau, in den längst die Eisenbahngesellschaft eingezogen ist. Es ist eins der wenigen Gebäude, das den gigantischen Entwicklungsplan für die verlassenen Hafendocks überstehen wird. „Da drüben“, sagt Foley und zeigt zum Spencer Dock stadteinwärts, „werden 3.000 Wohnungen gebaut, dazu zwei Hotels, Parkanlagen und ein Einkaufszentrum.“ Dahinter soll „Dublin Technopole“ entstehen, ein Hightech-Unternehmenspark nach Vorbild des französischen Montpellier. Das Grundstück gegenüber ist für den „Digital Park“ vorgesehen, auf dem sich Unternehmen aus dem Telekommunikationsbereich niederlassen sollen.

In den nächsten 15 Jahren sollen im alten Hafengebiet 40.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Damit auch die Anwohner davon profitieren, wird ein Bildungszentrum eingerichtet, in dem sie sich zielgericht ausbilden lassen können. Die Arbeitslosigkeit liegt in dieser Gegend bei 30 Prozent, von den 21.000 existierenden Jobs sind gerade mal acht Prozent mit Anwohnern besetzt. Das will man auf 30 Prozent steigern. Viele Alteingesessene mussten dem Megaprojekt freilich bereits weichen. Das grün verglaste Internationale Finanzzentrum, Symbol für den irischen Wirtschaftsaufschwung mit Wachstumsraten um acht Prozent bei niedriger Inflation, hat sich bis in die Sheriff Street ausgedehnt, die Bewohner sind in die Vororte umgesiedelt worden – zur Erleichterung der Polizei, denn die Straße galt als Hort des Verbrechens. Die Beamten hatten sich nur selten in die Straße gewagt, selbst die Rottweiler sollen dort „nur paarweise herumgelaufen“ sein, wie ein Polizist meinte. Aus und vorbei, jetzt stehen nur noch ein paar alte Schuppen am Straßenrand, und auch die werden verschwinden.

Das Docklands-Projekt ist der größte Entwicklungsplan in der irischen Geschichte, insgesamt wird es 1,2 Milliarden Pfund kosten, wovon der Großteil aus dem privaten Sektor kommen soll. Bei der Planung wurden nicht nur Experten aus Politik und Wirtschaft, sondern auch aus Kultur, Bildung und dem sozialen Bereich zu Rate gezogen. An der Liffey soll ein Konferenzzentrum gebaut werden, das Point Depot an der Mautbrücke flussabwärts bietet schon seit mehr als zehn Jahren Rockkonzerte, Theaterveranstaltungen und den Eurovisions-Wettbewerb, wenn die Iren das europäische Wettsingen denn mal wieder gewonnen haben und es im Folgejahr ausrichten müssen. Man hatte den Unternehmer Harry Crosbie, dem das Gebäude und zahlreiche Grundstücke in den Docklands gehören, damals für verrückt erklärt, als er das abgelegene alte Lagerhaus zu einem Konzertsaal umbauen ließ. „Das Docklands-Projekt ist toll“, findet Paolo Foley, „schade, dass wir nicht mehr hier sein werden, wenn es fertiggestellt ist. Aber unsere Werkstatt ist unsterblich: Hier wurden einige Szenen für den Film ‚Der Boxer‘ mit Daniel Day-Lewis gedreht.“