Vorurteile der Vorurteilslosen

In Deutschland gibt es die scharfe Trennung zwischen Deutschen und Fremden, in Amerika die Trennung politically correct und politically incorrect. Über die Schwierigkeit von Debatten

Interview TATIANA LIMA CURVELLO
und HARTMUT DAVIN

taz: Herr Goldmann, Sie sind ein Kenner des Einwanderungslandes USA. Sie kennen auch die einwanderungspolitische Auseinandersetzung in Deutschland. Bekennt sich Deutschland mit der Green Card und der neuen Qualität der Debatte als Einwanderungsland?

Robert Goldmann: Es ist absolut verständlich, dass man Einwanderer zulässt, sogar sucht, die für das Land nützlich sein können. Was ich aber bezweifle – und hier gibt es einen großen Unterschied zu Amerika –, ist, dass mit der Zustimmung zur Green Card alle Parteien Deutschland jetzt als Einwanderungsland sehen. In den Köpfen der Menschen ist nicht die Vorstellung, dass ein Einwanderer auch Deutscher sein kann.

Ist das so anders in Amerika?

In Amerika wird als Fremder oder Ausländer nur der Tourist betrachtet. Jemand, der in Amerika zehn, zwanzig Jahre lebt, egal ob er aus Indien oder aus Lateinamerika kommt, der wird nicht als Ausländer gesehen.

Ist das nur eine Frage der Bezeichnung?

Meine Frau sagt: wenn du nach Hause kommst, geh beim Koreaner vorbei und kaufe dies und jenes. Darin liegt nicht die Idee des Ausländers. Es geht darum, was in den Köpfen vorgeht, darum, dass die, die kommen, absorbiert werden, ohne dass große gesetzgeberische Maßnahmen getroffen werden müssen.

Bereits 30 Prozent der neu geborenen Kinder in Deutschland sind nichtdeutscher Herkunft; entweder kommen beide Eltern oder es kommt ein Elternteil aus einem anderen Land. In Großstädten wie Berlin sind nur noch 52 Prozent der hier geborenen Kinder deutscher Herkunft. Da stellt sich doch die Frage, warum diese Realität so schwer anerkannt wird.

Das Verhältnis zwischen dem, was deutsch und was fremd ist, wird gerade neu definiert. Wenn also die Fremden kommen und bleiben, heiraten und Kinder bekommen, dann wird die Frage neu aufgeworfen: Was ist deutsch? Man kann in einer Situation, wie wir sie beschrieben haben, mit Einwanderern aus allen Teilen der Welt nicht mehr das traditionelle Konzept bewahren, dass es Herkunft oder Geburtsort, in gewissem Sinne das Blut ist, was eine Person als deutsch identifiziert. Es muss darüber debattiert werden, was der Inhalt von Deutschsein jetzt und in der Zukunft sein wird.

Ist das veränderte Staatsbürgerschaftsrecht ein erster Schritt in diese Richtung?

Die Staatsbürgerschaft war schon ein Schritt vorwärts, aber ein formeller. Er berührt nicht diese tiefere Ebene.

Was meinen Sie mit dieser tieferen Ebene?

Ich erinnere mich, dass ich an einer Schulung des Programms „Eine Welt der Vielfalt“ teilnahm und eine der ersten Übungen für die zu schulenden Lehrer war, zu fragen: Wie identifizieren Sie sich? Da sagte eine Frau: Ich bin Lehrerin, ich bin Mutter, ich bin verheiratet, ich bin dies und jenes. „Ich bin Deutsche“ kam so ziemlich zuletzt oder überhaupt nicht. In Amerika hätte man gesagt: Ich bin Lehrer. Ich bin Amerikaner – ganz gelassen. Die Einzigen, die stolz auf Deutschland sind und das sagen, das sind die Rechten. Es muss auch hierzulande möglich sein, klar und gelassen zu sagen: „Ich bin Lehrer, und ich bin Deutscher“, ohne sich dabei irgendwie unbequem zu fühlen. Und das könnte dann natürlich auch die Fremden einschließen. Es würde eine neue Grundlage entstehen, auf der Deutschsein definiert würde.

Viele Initiativen und Gruppen in Deutschland führen eine Reihe von Trainingsprogrammen durch mit dem Ziel, in Institutionen wie Schule und Polizei Akzeptanz für die Einwanderungsgesellschaft herzustellen. Wie stehen Sie zu diesen Programmen?

Solche Programme verschiedener Art sind notwendig. Bei der Anti-Defamation League stehen solche Programme im Zentrum ihrer Tätigkeit. Und in einer freien Gesellschaft kann und darf man nicht alles der Regierung überlassen. Es ist wichtig, dass Bürgerorganisationen sich an der Lösung von gesellschaftlichen Problemen beteiligen. Ob sie nun Anti-Defamation League oder Civil Rights League heißen: Es sind Organisationen, die aus der Verantwortung des Bürgers für die Lösung von Problemen eintreten, die aus gesellschaftlichen Vorurteilen entstanden sind. Sie drücken ein Engagement des Bürgers – nicht als Einzelner, sondern in Gruppen – zur Mitarbeit bei der Lösung sozialer Probleme aus, das in ganz Europa, nicht nur in Deutschland, kaum entwickelt ist.

Und solche Initiativen bringen uns vorurteilsfreie Lösungen?

Keiner hat keine Vorurteile. Wenn wir nicht damit geboren werden, erwerben wir sie, ohne jedes Zutun, das ist nun einmal so. Daher darf man nicht, wie es oft vorkommt, bei den Leuten, die sich beruflich oder jedenfalls stark in diesem Sinn betätigen, glauben, sie seien diejenigen, die die Lösung repräsentieren, die vorurteilslos sind. Ich habe dies das Vorurteil der Vorurteilslosen genannt. Wenn heute jemand auf diesem Gebiet tätig ist – und da liegt meine Kritik – und versucht, durch ein derartiges Programm Vorurteile gegen Minderheiten – Schwarze, Schwule, Juden und auch Frauen usw. – zu bekämpfen, dann darf er oder sie nicht glauben, dass er vorurteilslos ist. Wenn Sie in Amerika, in New York, in Brooklyn, sehen, dass Koreaner von Schwarzen boykottiert werden, weil sie erfolgreich sind, sehen Sie, dass es in viele Richtungen Diskriminierung gibt. Die Mehrheit ist nicht immer schuld, und die Minderheit hat nicht immer Recht!

Wo passiert der Umschlag, dass ein an und für sich positives Engagement dazu führt, dass neue Vorurteile entstehen?

Ja, der Umschlag passiert, wenn die Vielfalt romantisch verklärt wird, anstatt eine Tatsache zu bleiben, mit der man sich auseinander setzt: Das darf man nicht erlauben, weil das zur positiven Diskriminierung führt. Man muss sehr vorsichtig sein und zwischen konstruktiver Beleuchtung der Probleme und Institutionalisierung der Andersartigkeit unterscheiden.

Können die Erfahrungen, die in den USA damit gemacht werden, für uns hilfreich sein?

Bei uns sind diese Erfahrungen sehr schwer zu diskutieren. Es ist ein unbequemes Thema. Weil erstens einmal die positive Diskriminierung in Amerika eine offizielle Politik ist. Und weil es an das, wovon wir vorher sprachen, an die Vorurteile der Vorurteilslosen, rührt. Denn eines darf man nicht vergessen: Wenn sich jemand dieser Arbeit widmet, und das ist in vielen Berufen der Fall, aber vor allem in den sozial bezogenen Berufen, dann ist es ja zum großen Teil, weil er oder sie es braucht, weil es die eigenen psychischen, emotionalen Bedürfnisse befriedigt. Und früher oder später muss die Frage aufgeworfen werden: Brauchst du das Opfer, dem du das Gute tust? Was ist die Motivation? Wie steht das Opfer dazu? Man muss sich dessen bewusst sein. Wir haben von Deutschen und Fremden gesprochen. In Amerika gibt es ein anderes Problem mit scharfer Trennung. Dort gibt es die strikte Unterscheidung zwischen politically correct und politically incorrect. Das ist so scharf getrennt in unseren Berufen, dass es sehr schwer ist, darüber zu diskutieren.

Das Interview wurde in Berlin geführt, wo Robert Goldmann an der Diskussionsreihe „Metropoly“ als Referent teilnahm. Die Reihe wird vom Haus der Kulturen der Welt und dem Verband binationaler Familien und Partnerschaften veranstaltet.