Union im Beißkrampf

CDU und CSU wütend über Paul Spiegels Vorwurf, mit ihrer „Leitkultur“ Antisemitismuszu befördern. CDU-Parlamentarier: Dem Verhältnis zwischen Juden und Nicht-Juden geschadet

BERLIN taz ■ Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, hat mit seiner Kritik am Begriff der „Leitkultur“ zum Teil erhitzte Reaktionen bei der Union hervorgerufen. Von einer „völlig überspitzten“ Äußerung sprach der CSU-Landesgruppenchef Michael Glos. Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) warf Spiegel am Wochenende vor, den Begriff „gründlich missverstanden“ zu haben.

Der Unmut richtet sich insbesondere gegen eine Passage aus Spiegels Rede auf der Großdemonstration am 9. November in Berlin. Unter dem Applaus der rund 200.000 Teilnehmer hatte Spiegel gefragt, ob es etwa deutsche Leitkultur sei, „Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten“. Die schärfste Formulierung hierzu fand der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann. In einer Erklärung unter dem Titel „Spiegels schlimme Entgleisung“ warf er dem Zentralratsvorsitzenden vor, seine an die Union gerichtete Unterstellung sei genauso falsch, wie Spiegel zu unterstellen, „er sei mitverantwortlich, dass beim letzten Racheakt der israelischen Armee zwei unschuldige Frauen getötet wurden oder dass ein 12-Jähriger von israelischen Soldaten erschossen wurde“. Der 52-jährige Parlamentarier aus Fulda warf die Frage auf, ob Spiegel durch seine Rede „das Klima zwischen den Juden und Nicht-Juden in Deutschland nicht nachhaltig schädige“. Als Fehler bezeichnete unterdessen die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, die Teilnahme der CDU an der Großdemonstration. „Die Union ist in die Antifa-Falle getappt.“ Es sei für ihre Partei eine peinliche Veranstaltung gewesen, weil „schnell deutlich wurde, dass sich die Demonstration auch gegen sie richtete“. Meldungen, wonach Fraktionschef Friedrich Merz noch vor der Rede Spiegel gedrängt habe, entsprechende Passagen zur „Leitkultur“ zu streichen, wurden gestern von der Pressestelle der Fraktion nicht bestätigt.

In die Debatte um Spiegels Rede griff auch die CDU-Vorsitzende Angela Merkel ein. Sie versuchte erneut, den im CDU-Zuwanderungspapier verwendeten Satz von einer „Leitkultur in Deutschland“ zu erklären. Dieser stehe für eine Kultur der Toleranz, des Miteinanders, der Verfassungswerte und der Weltoffenheit. In diesen Werten sehe sie keinen Widerspruch zu dem, was Paul Spiegel wolle, so Merkel. Zurückhaltend wie die CDU-Chefin äußerte sich auch der saarländische Ministerpräsident Peter Müller. Die Rede Spiegels sei „nicht sehr glücklich“ gewesen, weil sie keine Brücken baue. Wie Müller, so kritisierte auch die Vorsitzende der Einwanderungskommission, Rita Süssmuth (CDU), den Begriff der „Leitkultur“ als „einseitig und missverständlich“. SEV

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