Die Räumung der linken Westalgie

Mit der Räumung der Besetzerhochburg in der Mainzer Straße heute vor zehn Jahren zerbrach auch der SPD/AL-Senat. Doch schon zuvor fehlte Rot-Grün ein politisches Konzept für das vereinigte Berlin. Daran hat sich bis heute nicht allzu viel geändert

von RALPH BOLLMANN

Ein Mythos feiert Geburtstag. In den Morgenstunden des 14. November 1990 ließ der damalige Berliner Innensenator Erich Pätzold (SPD) die Polizei aufmarschieren, um an der Mainzer Straße in Friedrichshain besetzte Häuser räumen zu lassen. Wenig später, kurz vor den ersten Gesamtberliner Wahlen Anfang Dezember, stieg die Alternative Liste (AL) aus der Koalition mit der SPD aus. Eine linke Dolchstoßlegende war geboren: Hätten sich „König Momper“ und seine Sozialdemokraten nicht selbstherrlich über den Willen des Bündnispartners hinweggesetzt, so lautet bei der AL-Nachfolgepartei noch heute die gängige These, dann wären dem Stadtstaat zehn Jahre einer lähmenden großen Koalition erspart geblieben.

Doch das Scheitern von Rot-Grün im Spätherbst 1990 war alles andere als ein Betriebsunfall. Der Häuserkampf in der Mainzer Straße war allenfalls der Anlass für das Ende der Koalition. Die Ursachen lagen tiefer, tiefer auch als im ständigen Hickhack zwischen den Akteuren. Die Koalition war Anfang 1989 zu Westberliner Bedingungen geschlossen worden. Der Fall der Mauer hatte die Geschäftsgrundlage entscheidend verändert. Statt sich darauf einzustellen, machten die beiden Linksparteien weiter wie gehabt.

Strahlemann Momper kostete das Rampenlicht voll aus, das ihn im Winter 1989/90 kurzzeitig und unverdient zum Weltstaatsmann avancieren ließ. Deshalb fiel zunächst gar nicht weiter auf, was die Wähler im Dezember 1990 mit Stimmenentzug straften: Das rot-grüne Bündnis hatte kein Konzept für die vereinigte Stadt. Vielen Koalitonspolitikern vor allem aus den Reihen der AL war nicht einmal klar, dass sie eines brauchten. Statt das politische Denken angesichts des chaotischen Zusammenwachsens beider Stadthälften in neue Bahnen zu lenken, rückten die Koalitionäre neue Busspuren ins Zentrum ihres Programms.

Wenn es überhaupt ein politisches Projekt gab, das vor allem die AL den Berlinern damals anbot, dann war es die hilflose Verteidigung des alten Westberliner Idylls gegen die Zumutungen der neuen Metropole. Doch die Politik des „Weiter so“ konnte eine andere politische Kraft weit glaubwürdiger vertreten: Im Westteil der Stadt errang die CDU bei der ersten Gesamtberliner Wahl jede zweite Stimme. Allenfalls in Kreuzberg oder Schöneberg konnte die Alternativpartei die Westalgie auf ihre eigenen Mühlen leiten.

In der Opposition gegen die große Koalition konnten sich die Grünen, wie die Partei bald auch in Berlin heißen sollte, zwar schnell wieder regenerieren. Doch langfristig hat ihnen die rasche Erholung eher geschadet als genutzt. Sie stützte die bequeme Lebenslüge, nur Mompers Dolchstoß in der Mainzer Straße habe die Koalition zerstört und die Wahlniederlage herbeigeführt. Eine Debatte über eine grundlegende Neuorientierung im Zeichen der vereinigten Stadt wurde gar nicht erst geführt. Die Grünen blieben, was die AL immer war: eine Milieupartei der Westberliner Innenstadtbezirke.

Just zehn Jahre nach dem Scheitern der rot-grünen Koalition hat nun einer der wenigen profilierten Ostberliner in der Partei seinen Rückzug angekündigt. Andreas Schulze, einer der beiden Sprecher des grünen Landesvorstands, will bei der Neuwahl der Parteispitze im Februar nicht mehr antreten. Schulze hatte versucht, die seit zehn Jahren verschleppte Programmdebatte unter dem Stichwort „Metropolendiskussion“ endlich in Gang zu bringen. Das Ansinnen hatte seine Parteifreunde keineswegs empört. Es war schlimmer: Der Denkanstoß verpuffte in müdem Desinteresse. Der einst so diskussionsfreudigen Partei war die Lust an der Kontroverse abhandengekommen.

Beim Koalitionspartner von einst, den Sozialdemokraten, sieht es nicht viel besser aus. Im Gegenteil: Mit der erneuten Spitzenkandidatur Walter Mompers im vergangenen Herbst hatte die Stagnation sogar ein Gesicht bekommen. Mit diesem Déjà-vu hat sich der Exbürgermeister einen Bärendienst erwiesen: Auch dem Letzten wurde nun klar, dass der Mythos vom Staatsmann Momper mehr dem Glücksmoment des Mauerfalls als den politischen Fähigkeiten des Kreuzbergers geschuldet war. Statt der rot-grünen Nostalgie zu frönen, setzen die Sozialdemokraten jetzt auf die Postkommunisten von der PDS. Ohne ein politisches Projekt für die Stadt wird ihnen allerdings auch ein neuer Bündnispartner nicht weiterhelfen.