Mit Brecht gegen Brecht

Der Politologe und Essayist Ekkehart Krippendorff untersucht in seinen kundigen und originellen Studien, wie Bürger sich im Lauf der Geschichte immer wieder den Zumutungen der Staatsgewalt widersetzt haben

Regieren ist eine Kunst, die Herrschaftstechniken voraussetzt – vor allem solche, die der geschickten Lenkung der Unterworfenen dienen. Das war früher ein Gemeinplatz der politischen Theorie, aber seitdem angeblich alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, spricht man nicht mehr so gern darüber. Auch wider den Stachel zu löcken will gelernt sein, sonst ist die Wiederholung von Michael Kohlhaas’ traurigem Schicksal vorprogrammiert. „Die Kunst, nicht regiert zu werden“, der Titel von Ekkehart Krippendorffs Essay über ethische Politik „von Sokrates bis Mozart“, in dem er untersucht, wie man sich gegenüber den Zumutungen der Staatsgewalt wehren kann.

Es geht Krippendorff hier nicht so sehr um Gegenstrategien der Gewaltunterworfenen. Vielmehr entwirft er das Bild des widerständigen Bürgers, der durchs Leben geht, ohne zu katzbuckeln. Die Wahl des Titels ist für Krippendorff also Programm. Damit bezeichnet er eine moralische und politische Haltung. Der Titel ist einer Schrift des französischen Philosophen Foucault entlehnt. „Regierung“ (gouvernement) meint dort die disziplinierenden, Zwang ausübenden Institutionen, aber auch die „Selbstregierung“ der Individuen.

Durch diese „Techniken des Selbst“ kann eine widerspenstige Autonomie herausgebildet werden. Man kann der Regierungskunst entwischen, sie zurechtstutzen, auf ein vernünftiges Maß zurückführen. Foucault nennt diese Gegenkunst „Kulturform“. Das gefällt Krippendorff. Er unternimmt den Versuch, diese Kulturform durch die Jahrhunderte zu verfolgen. Herausgekommen ist eine Geschichte „des Politischen“, verstanden als Genealogie aufrechter politischer Charaktere, die sich spannend und lehrreich liest.

Schon in den Schriften des letzten Jahrzehnts hat Krippendorff in politischer Absicht in den Werken großer Autoren der Weltliteratur gewildert und sowohl Shakespeare als auch Goethe Monografien gewidmet. Der Autor von „Die Kunst, nicht regiert zu werden“ will keineswegs in wissenschaftsfernen Welten luxurieren. Vielmehr unternimmt er einen Rekonstruktionsversuch, der nachweist, dass vom antiken griechischen Theater über die elisabethanische Bühne bis zur Oper des 19. Jahrhunderts die Sache des Gemeinwohls in aufklärerisch-kritischer Absicht verhandelt wird, und dies – das ist der springende Punkt – in der Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit besteht keineswegs aus gebildeten Connaisseuren. Sie ist ein Versammlung von Bürgern, die mitgerissen, erschüttert, beleidigt oder empört sind, weil es ihre Sache ist, die auf der Bühne verhandelt wird.

Auch bei scheinbar unpolitischen Dichtern wie Goethe gelingt es Krippendorff in seinem Essay, den durchgehenden politisch-aufklärerischen Impetus des „Dichterfürsten“ nachzuweisen. Seine Arbeit enthält zudem einige wichtige ideologiekritische Kapitel. Er zeichnet nach, wie die Außenpolitik, indem sie von Kulturen wie von Lebensverhältnissen der Völker abstrahiert, zur Machtideologie gerinnt und wie gefährlich leicht die scheinbar unverrückbaren Gesetze dieser Machtpolitik ins Massenbewusstsein eindringen und es beherrschen. Zwischen Stammtischrunden und den Reflexionen der außenpolitischen Braintrusts entsteht so eine unheilvolle Korrespondenz.

Krippendorff gebraucht das suggestive Bild von Staatsmännern, die, über eine Landkarte gebeugt, Territorien aufteilen, die sie nie besucht hatten und über die sie nichts wissen. Dabei legen neuere Arbeiten nahe, dass nicht nur der Gebrauch der Landkarten, sondern bereits diese selbst den machtpolitischen Zugang zur Politik widerspiegeln. Damit nimmt der Autor sich auch in dieser Arbeit seines Lieblingsthemas an: der Militärkritik. Er weist, auch hierin dem Denken Foucaults verwandt, die Entstehung des modernen Nationalstaats aus dem Geist und den Praktiken des Militärs nach.

Nicht der Krieg ist die Fortsetzung moderner Politik, sondern diese ist die Fortsetzung des Krieges. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn Krippendorff diese strukturelle Betrachtungsweise auch auf die gegenwärtige Legitimationskrise der Bundeswehr angewandt hätte. Besonders interessant wäre seine Meinung dazu gewesen, ob es in der Außen- oder Militärpolitik Internationalisierungstendenzen, etwa im Bereich der UNO gibt, die geeignet wären, diese Strukturbeziehung zwischen Staat und Militär zu unterminieren.

Krippendorff fordert die aufrecht-kritische Haltung, aber für ihn schließt dies keineswegs Bewunderung, ja Verehrung für Größe aus. Das diesem Komplex gewidmete Kapitel ist für die Linken besonders bemerkenswert, gehört doch die Kritik am Heldentum seit je zu ihrem Waffenarsenal. Die Hauptquelle bildet Brechts „Leben des Galilei“ und der berühmte Gegensatz von „Unglücklich das Land, das keine Helden hat“ (so Andrea, Galileos Schüler, der über dessen Widerruf enttäuscht ist) und Galileos Antwort „Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“.

Krippendorff fasst diesen Gegensatz als bewusste Paradoxie auf. Als Einheit. Brecht meinte das zwar anders, bei ihm erscheint Galileo als der überlegene Stratege beim Verbreiten der Wahrheit, Andrea hingegen als zwar hochherziger, aber moralisierender Dummkopf, dem es auf die heldenhafte Geste mehr ankommt als auf den schließlichen Sieg der Vernunft. Dennoch könnte es sein, dass „nutzloses“ Heldentum sich oft als unumgänglich erweist und seine Wirkung erst später entfaltet. So zumindest haben es viele gesehen, die gegen den Nazismus Widerstand leisteten. Sieht man es so, so könnte Krippendorffs Interpretation Brechts gegen Brecht doch Recht behalten.

CHRISTIAN SEMLER

Ekkehart Krippendorff: „Die Kunst, nicht regiert zu werden. Ethische Politik von Sokrates bis Mozart“. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1999, 467 S., 56 DM