die stimme der kritik
: Betr.: Drogenkonsum im Bundestag

Die Alkis haben die Mehrheit

Eigentlich ist nicht viel passiert: Journalisten haben im Reichstag nur ein bisschen Kokain erschnüffelt. Das löste große Aufregung im Hohen Hause aus. Die Verursacher sind schnell gefasst: „Latrinen-Journalisten“. Oder vielleicht auch schlampige Multikulti-Raumpflegerinnen, die die deutschen Toilettendeckel in den Fraktionsetagen und vor dem Präsidialbüro nicht clean gewienert haben? Flugs lenkt Parlamentspräsident Wolfgang Thierse den Verdacht auf Schreiberlinge und Besucher, obwohl Letztere zu diesem exklusiven Örtchen gar keinen Zugang haben.

Über Süchtige im Parlament wird nicht gern geredet. Dabei gibt es dort Junkies der verschiedensten Präferenzen. Die Alkis, eher männlich, stellen parteiübergreifend die größte Fraktion. Dem Medikamentenmissbrauch frönen mehrheitlich die weiblichen Volksvertreterinnen.

Unter den Abgeordneten grassiert die Panik, verbunden mit einem ungeheuren täglichen Wischiwaschi-Stress. Die Dauergrinser und die aufgesetzte Fröhlichkeit der ewigen zwanzig politischen Fernsehköpfe darf nicht über die Angst am und um den Arbeitsplatz des parlamentarischen Fußvolkes hinwegtäuschen. Gewählt wird eben nur auf vier Jahre. Es gibt keinen Kündigungsschutz. Die Angst vor dem Absturz ins Nichts ist ungeheuer.

Unter den Kolleginnen und Kollegen, die da hektisch unter der Käseglocke des Reichstages, auch Schneekoppe genannt, hin und her huschen, sind fast alle nach ihrer eigenen Einschätzung jung, dynamisch und erfolgreich. Das Image der MacherInnen darf keinen Kratzer bekommen. Man betätschelt sich zwar dauernd wie auf dem Affenfels im Zoo sichernd gegenseitig mit den Händen, aber die Leitkultur des demokratisch gewählten Parlaments ist das Misstrauen. Sich anderen Fraktionskollegen mitzuteilen, kann im Kampf um die besten Plätze auf der Karriereleiter fatale Folgen haben. Es passt auch nicht zur eigenen Würde.

Ist das Parlament nun ein Hort von Säufern, Koksern, Tablettenfressern und Machtsüchtigen? Mitnichten: Im Turbokapitalismus ist der Deutsche Bundestag nicht eine Insel der Enthaltsamen, sondern nur ein Großbetrieb wie jeder andere auch. Also mit Stress, mit Druck, mit Süchten – die Realität ist eben nur durch Realitätsverlust zu ertragen.

HANS WALLOW

Der Autor ist ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordneter