Wir brauchen deutsche Literatur

Was wir wissen müssen (Teil 3): Dass Schüler Gedichte lesen, auch schwierige! Notfalls sollen die Lehrer vorlesen. Warum? Weil wir wegmüssen von der Manie der 68er, Literatur in Textfragmente zu zerstückeln. Meint der linke Verleger Klaus Wagenbach

von KLAUS WAGENBACH

Wer heute wieder einen „Kanon deutscher Literatur für die gymnasiale Oberstufe“ einrichten möchte, in der Hoffnung, die Stummelsprache einzudämmen und vaterländisches Bewusstsein zu fördern, dem bleibt der Blick zurück nicht erspart.

Er geht zurück in die Fünfziger- und Sechzigerjahre, als ein Kanon ad usum delphini noch selbstverständlich war. Nur: Was für ein Kanon! Agnes Miegel und Rudolf Hagelstange, Gerd Gaiser und Werner Bergengruen, Hans Carossa und Georg von der Vring, Gertrud von Le Fort und Ernst Wiechert. Ihnen waren nicht nur die Schullesebücher gewidmet, sondern sie füllten auch die Anthologien für ein breiteres Publikum: „Ergriffenes Dasein“ hieß die erfolgreichste. Viel Ergriffenheit, wenig Begreifen, viel Da-Sein, wenig Erkenntnis.

Da schien es nur zu verständlich, wenn eine junge Generation die Abschaffung eines solchen Kanons forderte und am besten, in Wut und Wahn, gleich die Literatur mit. Die Siebziger- und Achtzigerjahre waren ja, leider, leider, nicht Zeiten eines neuen Kanons, sondern Zeiten der „Texte“, des Gebrauchswerts oder der Dokumentarliteratur, kurz: der politisch korrekten Verständigungsprosa. Hinter der dann doch allzu oft sich die Kunstfeindschaft des Linkshabers oder der knochige Zeigefinger des ewigen deutschen Paukers verbarg.

Eine schwachsinnige Zeit. Die Folgen: Schüler, denen kein größeres Stück Literatur, kein schwieriges Gedicht, kein Theaterstück, keine ältere Prosa mehr zugemutet wurde, die vielmehr mit Textfragmenten zugeschüttet wurden und die mit zwei Leitz-Ordnern die Schule verließen. Literatur als Fotokopiervorlage. Mit anderen Worten: Diese Schüler wurden genauso behandelt wie die Schüler der Fünfziger- und Sechzigerjahre – als unmündige Versuchskarnickel.

Aus diesen Schülern sind inzwischen junge Leute geworden, die oft weder sprechen (totalechtvollgutwa?) können noch eine Literatur lesen wollen, die von den Artisten in der Zirkuskuppel (Kleist, Kafka, Goethe) bis zu den ausgezeichneten Wanderführern in unsere nationale Seele (Hölderlin, Grimmelshausen, Heine) reicht. Mit anderen Worten: Leute, die nicht nur mit der Preisgabe des Versuchs, einen eigensinnigen Zugang zu unserer Sprache (einer, zugegeben, schwierigen, aber auch besonders schönen) zu gewinnen, ein Stück Selbstachtung verlieren, sondern auch Leute, die ein interessantes Stück vaterländischen Bodens nicht kennen lernen möchten.

Die sind dann natürlich völlig von den Socken über eine Dresdner Hausfrau, die um einen rostigen Gartenzaun und gegen den Knallerbsenbusch des Nachbarn kämpft. Ja, hätten sie den „Michael Kohlhaas“ gelesen, hätten sie sich gleich zu Hause gefühlt in dieser niedlichen Facette unseres Nationalcharakters. Oder, wenn sie Schillers „Räuber“ kennen würden, wüssten sie gleich Bescheid, falls ihnen, lodernden Blicks, ein glaubensstarker deutscher Jüngling begegnet. Oder wären vielleicht, nach der Lektüre des „Hyperion“, weniger hochmütig gegenüber unseren nationalen Defekten. Oder, nach Lektüre der „Marquise von O.“, weniger überrascht über die Taktiken deutscher Frauenseelen. Oder der Deutsche Grübelotto: Mit dem „Faust“ im Kopf schätzen wir ihn doch gleich besser ein! Oder der Deutsche Simpel: wir kennen ihn seit Grimmelshausen! Nein, nein: Wir brauchen die deutsche Literatur. Dringend. Zum Selbstverständnis wie zur Selbstachtung. Zum Zu-Hause-Fühlen wie als Kompass. Und die ratlosen Deutschlehrer sollen, bitte, ihren Schülern das alles vorlesen. Mit wenigen historischen und biografischen Erläuterungen. Hauptsache: Vorlesen. Nur das Beste. Auch das so genannte Schwierige. Damit ihre Schüler sich später erinnern und beim Wiederlesen Rat, Heiterkeit und Erkenntnis finden in Sachen Schönheit und Nationalcharakter.