Kraft durch Kohle

Historiker Rostock möchte ein Museum für NS-Sozialgeschichte. Die Investoren möchten ein schickes Seebad. Geld geben oder einnehmen?

„Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, lieber Gerhard. Wichtig scheint mir zu sein, dass der Bund keine weiteren Verkäufe vornimmt.“

aus Prora NICOLE MASCHLER

Das Dach hat ein Leck. Nicht bloß an einer Stelle, leider. Es tropft überall. Kopfschüttelnd bleibt der Handwerker an der Tür stehen. Wer wohl die Idee hatte, das Regenwasser durchs Mauerwerk nach außen zu leiten?

Erst im Februar hat das „Dokumentationszentrum Prora“ den Seitentrakt bezogen. Nun schließt es seine Pforten wieder, bis zum Frühjahr jedenfalls. Nicht wegen der Bescherung von oben. Im Winter verirren sich so gut wie keine Touristen in diesen Teil Rügens. Das Pärchen, das eben die Ausstellungshalle betreten hat, wirft einen Blick in den Filmraum, wo der Abspann läuft. Die Aufsicht sperrt die Tür hinter ihnen ab. Fünf Uhr, letzte Vorstellung für heute, kommt doch keiner mehr. Das feuchte Gemäuer lädt nicht zum Verweilen ein, selbst in den Sommermonaten sitzen die Mitarbeiter im Wollpulli am Schreibtisch. Der Handwerker zuckt die Achseln. „Wurde auch 60 Jahre lang nichts getan.“

Doch mehr als ein halbes Jahrhundert nachdem die Nationalsozialisten den Grundstein für das „Seebad Prora“ legten, werden bald erneut Bauwagen über die Zufahrtswege rollen. Die Hamburg-Kölner Investorengruppe Bau-Consult will zwei der fünf noch erhaltenen Gebäudeflügel in 450 Eigentums- und 90 Sozialwohnungen verwandeln. Kernsanierung, schmucke Außenfassade, französische Fenster zum Strand, fertig. „Die haben die Filetstücke erhalten“, sagt Jürgen Rostock. Er klingt bitter. Als Kuratoriumsmitglied der „Stiftung Neue Kultur“ fordert er seit Jahren den Erhalt von Prora. Rostock kämpft für ein Museum der NS-Sozialgeschichte, mit dem Dokumentationszentrum als Grundstein. Der Mythos von den sozialen Errungenschaften des Regimes müsse endlich zerstört werden.

20.000 Menschen sollten an der Prorer Wiek einst ihre Ferien verbringen. Den Volkskörper durch Massenverschickung ertüchtigen. Kraft durch Freude. Die Idee gebar einen unförmigen Riesen: 185.000 Quadratmeter Nutzfläche, 4,5 Kilometer Länge, 9.847 Zimmer – die größte Immobilie Deutschlands. Doch Urlauber haben hier nie gewohnt. Zwangsarbeiter mussten den Rohbau notdürftig fertig stellen. Nach Kriegsende beherbergten die Blöcke Flüchtlinge, ab 1952 die Nationale Volksarmee.

Der Bund als Eigentümer suchte nach der Wende vergeblich einen Gesamtinvestor. Elf Trakte und sechs Stockwerke Leerstand pro Flügel – Alptraum eines jeden Maklers. Die Quergebäude, die landeinwärts kammartig hervorragen, waren einst für Sanitäranlagen vorgesehen. Von einem Ort der Sauberkeit kann indes keine Rede sein. Der Boden strotzt vor Dreck, Fliesen sind herausgebrochen. Ein Ölbild hängt traurig in Streifen, eine Baumallee im Herbst.

Prora müsste dringend saniert werden. Doch ein scheibchenweiser Verkauf? Jürgen Rostock, ruhige Stimme und wache Augen, schüttelt den Kopf. Ihm graut davor, die historische Altlast einfach wiederzuverwerten. Vielleicht, weil er erfahren hat, wohin der bedenkenlose Umgang mit der Vergangenheit führt. Nach der Wende musste er seinen Platz an der Deutschen Bauakademie räumen, die DDR-Einrichtung wurde abgewickelt. Mit der „Stiftung Neue Kultur“ tritt er heute gegen „Erinnerungstilgung“ im neuen Deutschland an.

Längst in der Versenkung verschwunden ist das Nutzungskonzept, das die Berliner „Stern“-Gesellschaft 1997 unter dem Titel „Prora für Rügen“ vorlegte. Was sie vorschlug, waren Jugendhotels, Ferienwohnungen, Gewerbe – Mischnutzung unter einem Dach, die dem Erbe Rechnung trägt. Die Studie liegt auf dem Tisch wie eine papierne Mahnung. „Ohne langfristiges Konzept“, sagt Rostock, „geht das schief.“

Spontan und mit befristetem Mietvertrag haben sich in „Block 3“ Bildungsträger, Kunstprojekte und Museen eingerichtet. Wie im Zirkus gehe es dort zu, bedauert Rostock. Im Seitentrakt, neben dem Dokumentationszentrum, lädt „Rügens größte Disco“ zur Miss-Wahl. An der Zufahrtsstraße hat Andy seinen Stand aufgebaut: „Heiß und Eis“. Die Männerrunde am Wagen mag’s lieber alkoholisch. Vor dem Gebäude ein wahrer Schilderwald: „Erkunden Sie die Geheimnisse der Geisterstadt Prora“, „Medienmagnet NVA-Museum“. Den Weg zum Dokumentationszentrum weist ein schlichtes Plakat, schwarze Schrift auf weißem Grund.

Jürgen Rostock liebt die leisen Töne. „Lobbyarbeit“ ist seine Sache nicht. Doch dass man für seine Ziele werben muss, hat er eingesehen. Nur der Haushaltsausschuss des Bundestages könnte den Verkauf noch verhindern. „Die Bedeutung Proras ist vergleichbar mit dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg.“ Rostock greift zu den Akten neben sich. Historiker wie Wolfgang Benz haben ein Memorandum verfasst, drei Seiten lang. Kein Opferort sei Prora, aber doch einer mit Erklärungsbedarf.

Das findet auch Lothar Mark, Kulturberichterstatter der SPD im Haushaltsausschuss. Vor drei Wochen hat er daher seinem Chef einen Brief in Sachen Prora geschrieben. „Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, lieber Gerhard“, hat der Abgeordnete vorsichtig formuliert, „Wichtig scheint mir zu sein, dass der Bund keine weiteren Verkäufe vornimmt.“ Denn die „Stiftung Neue Kultur“ um Jürgen Rostock habe dezidierte Vorstellungen entwickelt.

Von wegen, schnaubt Joachim Wernicke. „Der Mann baut unser Museum mit staatlichem Geld nach und uns wirft er vor, dass wir nur was für KdF-Selige seien.“ Vor fünf Jahren hat der Physiker in Prora ein Technikmuseum nach amerikanischem Vorbild eingerichtet. Prora bot vor allem einen Vorteil, einen Quadratmeterpreis von 30 Pfennig. Allein der Besucherstrom blieb aus. Dann eben nicht. Wernicke gründete das Prora-Museum. Dort erhalten Touristen für 7 Mark nun einen Eindruck vom kargen Komfort der KdF-Urlaubsquartiere: 2,2 mal 4,8 Meter, zwei Betten, Waschtisch, Kleiderschrank.

Im Treppenaufgang hängt ein Zettel: Material für Archiv gesucht. Das sei derzeit noch im Aufbau, sagt Wernicke. Doch auf lange Sicht will er alle wichtigen Nachschlagewerke und möglichst viele Originaldokumente im Schrank haben. „Man muss ja höllisch aufpassen, wenn es um die NS-Zeit geht.“ Oft genug wurde er in einen Topf geworfen mit dem KdF-/NVA-Museum zur Linken, das zeitgenössische Lobpreisungen auf KdF-Reisen kommentarlos ausstellt. Mehrere Einrichtungen, glaubt Wernicke, können nicht nebeneinander bestehen.

Noch ist allerdings nicht einmal sicher, ob Museen in Prora überhaupt eine Zukunft haben. Anfang des Jahres hatte die zuständige Oberfinanzdirektion Rostock Wernickes Mietvertrag gekündigt. Nun zahlt er mehr als das Doppelte. „Schikanös“ sei das. Der Schriftwechsel füllt längst einen Aktenordner. Wernicke fährt mit dem Finger über einen der Briefe. „Eine Zusage, dass ein Verbleib in den derzeitig genutzten Räumlichkeiten gesichert ist, kann ich aus heutiger Sicht nicht geben.“ Der Oberfinanzdirektion, glaubt Wernicke, gehe es gar nicht um Prora, sondern nur ums Geld. Im Juni legte er Dienstaufsichtsbeschwerde gegen einen Mitarbeiter ein. Als Geschäftsführer einer privaten Wohnungsbaugesellschaft in Prora befinde der sich im Interessenkonflikt. Die Antwort aus Rostock kam postwendend: Üble Nachrede sei das, gegen die man notfalls juristisch vorgehe.

Auch zum Sprecher der Investorengruppe Bau-Consult, Otto Paulick, hat Wernicke „belastendes Material“ gesammelt. Tatsächlich ist der „Große Otto“, wie der langjährige Präsident des FC St. Pauli in der Branche genannt wird, kein unbeschriebenes Blatt. 1979 rettete er den Verein zunächst vor dem Bankrott, um ihn dann um mindestens 20.000 Mark zu erleichtern. 1988 stand der Rechtsanwalt in eigener Sache vor Gericht, wegen Betrugs und Falschaussage. Doch für die Rostocker Oberfinanzdirektion ist das „lange her und verjährt“ und Wernicke wohl nur ein Querulant.

„Die sollen sich erst einmal untereinander einigen.“ Nicht, dass Dieter Reinhardt ein Museum auf Prora grundsätzlich ablehnte. Aber drei sind eben zwei zu viel. Der Binzer Bürgermeister hat seine eigenen Vorstellungen: Prora für Binz. Das Seebad, zu dem der Ortsteil Prora gehört, habe sich lange genug mit dem düsteren Erbe herumgeschlagen. Reinhardt will dem Stahlbetonbau endlich Leben abtrotzen.

Auf dem Miniaturmodell, das den Besucher in der Eingangshalle des Amtes empfängt, ist Prora nur angedeutet, ein schmaler Streifen am Meer. Doch Reinhardt sieht das Ferienparadies bereits vor sich: Hier Binz, „das große mondäne Sorrent des Nordens“, dort „das solide kleinere Prora“, mit Sport- und Freizeiteinrichtungen. Auf dem weitläufigen Gelände, hofft er und sein Lächeln wird noch breiter, ließe sich endlich auch das Meerwasserbad verwirklichen.

Eines brauche Binz aber ganz sicher nicht, sagt Reinhardt, den Nazi-Komplex „ausgeleuchtet und als Monument verewigt“. Warum ausgerechnet Prora? Seine Stimme wird noch lauter. „Woher nehmen die Historiker denn das Geld für den Erhalt?“ Vor drei Jahren hatte der Gemeinderat selbst ein Angebot vorgelegt: Binz, so schwebte es den Ortsvertretern vor, erwirbt den Koloss für 22,5 Millionen Mark und stottert die Kaufsumme ab. Doch der Landkreis fürchtete, das Städtchen werde sich an dem Mammutprojekt überheben und verweigerte seine Zustimmung. Ein herber Schlag für die Binzer. Den Einspruch des Landkreises empfand Bürgermeister Reinhardt beinahe als persönliche Beleidigung. Schließlich, meint der Bürgermeister, sprechen die Zahlen für sich. 70 Millionen Mark hat seine Kommune seit der Wende in den Wohnungsbau gesteckt, 10.500 Betten, kein Leerstand. Dass sich am Ende doch noch ein Käufer fand, ist für ihn eine Art später Genugtuung: Seht her, das kleine Binz ist für Investoren interessant.

Im Infokasten der Gemeindeverwaltung lädt ein Aushang zur öffentlichen Anhörung zum „Bebauungsplan 13“. Die Gemeinde, sagt der Bürgermeister, hat in Prora ein Wörtchen mitzureden. „Wir haben das Recht, einem Investor etwas abzuschlagen.“ Oder ihm den Zuschlag zu erteilen. „Geld“, sagt Reinhardt lachend, „regiert nun einmal die Welt.“

Der Haushaltsausschuss des Bundestages scheint das anders zu sehen. Morgen wollen die Abgeordneten darüber entscheiden, ob die „Stiftung Neue Kultur“, die für ein Gesamtkonzept eintritt, mit 500.000 Mark gefördert wird. Solange der Verkauf von Prora im Ausschuss nicht auf der Tagesordnung stehe, heißt es, werde noch nach einer anderen Lösung gesucht.