Dem Wahnsinn entklettern

...und doch einsam bleiben: JavierTomeos „Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief“ an den Kammerspielen  ■ Von Liv Heidbüchel

Ein Mann schreibt einen Brief. Nein, eher krakelt er zwei Reispapierseiten derartig voll, dass sie fast schwarz sind. Seine Schrift ist winzig. Die Syntax mangelhaft. Was hier und dort aus dem Tintenmeer hervorblitzt, ähnelt Hieroglyphen. Mit etwas Glück und viel Kombinationsvermögen allerdings kann sich der Leser vielleicht sogar eine konkrete Frage aus dem Geschreibsel erschließen: „Sind Frösche fundamental?“ Doch den Briefeschreiber interessiert mitnichten eine dezidierte Antwort auf derlei Abstrusitäten. Immerhin ist das Geschriebene von keinerlei inhaltlicher Relevanz, wenngleich mit System verfasst. Ein System, über das der Verfasser in 20 Jahren selbstgewählter Isolation eindringlichst nachsinnen konnte. Im Falle des Marquis von Q. zählt einzig, dass überhaupt irgendwann eine Antwort kommt und damit der ersehnte Ruf zurück in die Gemeinschaft.

Allerdings ist allein schon das Briefeaustragen mit unzähligen Imponderabilien verbunden. Derart niedere Tätigkeiten schicken sich für einen Marquis bekanntermaßen nicht – also muss der arme, treue Diener ran. Da er ihn als „aufgestiegenen Bauern“ betrachtet, glaubt ihn sein Herr von gesellschaftlichen Gepflogenheiten gänzlich unbeleckt und erteilt ihm folglich minutiöse Regieanweisungen.

Dieses absurde Gebaren um den chiffrierten Brief ist es denn auch, das der Roman Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief des Spaniers Javier Tomeo in allen seinen Facetten detailliert auffächert. Der deutschen Bühnenfassung von Friederike Roth hat sich nun Gerhard Garbers in einer Koproduktion mit den Hamburger Kammerspielen angenommen. Darin übernimmt Garbers selbst den Part des Marquis, den malträtierten, leidenden Bediensteten Bautista gibt Niels Hansen.

Doch scheint Bautista natürlich nur auf den ersten Blick der so übel Gequälte: Der eigentlich Darbende ist vielmehr der Marquis in seinem Schloss. Zwar konnte er zwei ungestörte Jahrzehnte lang seinen Gedanken nachhängen und sich ohne Einschränkung der Insektologie hingeben. Nur birgt auch ein rein kontemplatives Dasein so seine Schattenseiten. Da avanciert der Angestellte früher oder später zwangsläufig zum Gesellschafter, und auch eine Geliebte muss her. Den näherrückenden Wahnsinn beeindrucken solche Bemühungen natürlich ebensowenig wie dicke Schlossmauern und Zugbrücke. Komischerweise geht das dem Marquis erst auf, als er schon dabei ist, seinen unverständlichen Hilfeschrei an die Welt zu artikulieren.

Die Rolle des alternden Adligen, der sich als Reaktion auf die stetig schwindende soziale Anerkennung in die Einsamkeit versteigt und ihr nach endlich erreichter Weltfremdheit wieder zu entklettern versucht, geht Garbers an wie „eine Verpflichtung“. Doch wenn der Schauspieler über andere, nicht minder reizvolle Theaterfassungen von Tomeos Romanen spricht, klingt alles nach potentieller Verpflichtung. Dieser Mann glüht. Das kann unmöglich am Marquis liegen, den Garbers in den Falten seines knielangen Barockmantels mit in die Probenpause getragen hat. Er gibt es selbst zu: „Wahre Schauspieler sind zwanghaft. Die müssen spielen.“

Nun spielt Garbers also den Marquis, der gleich in doppelter Hinsicht einen unerhörten Brief verfasst: Schon in seiner Aufmachung ist dieses Schriftstück eine Zumutung. Wie der Marquis jedoch manisch jede Eventualität bei dessen Überbringung an den benachbarten Grafen bedenkt und sie Bautista einbläut, sprengt definitiv die Grenzen dessen, womit sich ein Mensch belasten sollte. Das reicht von gnädig stimmender grüner Kleidung und Perücke über einen Schnellkurs im Fechten mit Regenschirm für den Fall, dass es mit dem Türsteher des Grafen Ärger gibt.

Es sollte nicht verwundern, bliebe der Brief über all der Planung „unerhört“. Und so bliebe auch die einsame Traurigkeit ewiges Schicksal des Marquis .

16.- 18., 23.-25., 30. November sowie 1. und 2. Dezember, jeweils 20.30 Uhr, Kammerspiele