About a boy

■ Die Vorschau: Der Kanadier Kenn Harper liest morgen aus seinem materialreichen dokumentarischen Buch über den „Eskimo von New York“

Der kanadische Journalist Kenn Harper ist ein gemütlicher Mensch. Mehr als sein halbes Leben hat er nördlich des Polarkreises verbracht. Dort stieß er auf die Geschichte des jungen Minik, den es Ende des 19. Jahrhunderts nach New York verschlug. Sie ließ ihn so lange nicht los, bis ein Buch entstand, das zwischen Literatur und Sachbuch schwebt und zugleich wissenschaftskritisch und spannend ist.

taz: Worum geht's?

Kenn Harper: 1897 befand sich der Forscher Robert Peary auf seiner vierten Grönlandexpedition. Er bot sechs Inuit an, mit nach New York zu kommen, das er als „sunshine land“ beschrieb. Unter ihnen waren Minik und sein Vater Qisuk.

Peary war gewiss kein selbstloser Mensch. Was war der wirkliche Grund?

Franz Boas, ein in Berlin geborener, berühmter New Yorker Anthropologe hatte ihm vorgeschlagen, einen erwachsenen Eskimo für den Winter nach New York zu bringen, um ihn dort studieren zu können. Als man sie schließlich ins Museum brachte, wurden sie schnell krank, weil sie nicht immun waren gegen die Krankheiten der zivilisierten Welt. Eine einfache Grippe konnte bereits den Tod bedeuten. Bald schon wusste man im Museum nichts mehr mit ihnen anzufangen. Im Februar 1898 starb Miniks Vater in einem Krankenhaus.

Was geschah mit Minik?

Er war der Einzige, der in Amerika blieb. Man wollte sehen, ob es „möglich sei, einen Wilden zu erziehen“. Er bekam mit, wie sein Vater beerdigt wurde, es war ein traditionelles Inuitbegräbnis. 1906 aber entdeckte er das Skelett seines Vaters im Museum. Wie konnte das sein? Es kam heraus, dass das Begräbnis inszeniert worden war. Tatsächlich wurde Qisuks Leiche für wissenschaftliche Untersuchungen benutzt. Der junge Mann setzte alles daran, ein angemessenes Begräbnis nachzuholen. Spätestens jetzt war Minik, was das Leben in Amerika angeht, komplett desillusioniert. Erst nach einer Zeitschriftenkampagne 1909 unter dem Titel „Give Me My Fathers Body“, konnte Minik zurückkehren – in ein Zuhause, das er nicht kannte. Er musste die Sprache lernen. Er war eine dieser tragischen Figuren, die zwischen zwei Welten leben müssen, ohne in einer sich heimisch zu fühlen. Er starb 1918.

Wie sind Sie auf diese Geschichte gestoßen?

Ich lebe seit 1966 in der Arktis. Ich traf einen Grönländer, der sich wie ich für Geschichte interessierte. Er zeigte mir das Tagebuch eines dänischen Forschers. Ein Eintrag handelte von Miniks Rückkehr. Ich fragte die Älteren, was sie von Minik wüssten. Sie kannten die Geschichte, aber für sie hatte sie kein Ende. 1916 war Minik wieder nach New York gegangen. Weiter wussten sie nichts. Über die Jahre wurden verschiedene Schlüsse angeboten. Zum Beispiel, dass Minik Pilot geworden war und in einem Crash ums Leben kam. Sie spekulierten ein möglichst heroisches Ende herbei.

Sie haben dann in Archiven geforscht, eine Menge Material zusammengetragen, wissenschaftliche Quellen aber auch Erzählungen. Wie wird daraus ein Buch?

Es wurde zu einer Obsession. Voraussetzung war, dass ich bereits in den 60ern die Sprache der Inuit gelernt hatte. Ich war nicht auf eine Sensation aus, sondern versuchte, mich weitgehend zurückzunehmen.

Haben Sie dran gedacht, einen Roman daraus zu machen?

Nein. Zum einen war ich nicht sicher, ob ich einen Roman würde schreiben können. Wichtiger aber war, dass man vielleicht gesagt hätte: Das ist nicht plausibel. Man sagt ja „truth is stranger than fiction“.

Nicht erst postmoderne Theorie hat gezeigt, wie sehr auch wissenschaftliches Schreiben Erzählstrategien folgt. Mit einem emotionalen Stil wollen sie dem nahe kommen, was Minik gefühlt haben könnte.

Ich wollte nicht ein weiteres kritisches Buch über Peary schreiben. Auch kein wissenschaftsgeschichtliches Buch. Einige sagten, ich ginge zu hart mit Boas um. Aber ich habe sein Tun und das Pearys nur an ihren eigenen Worten gemessen. So habe ich auch nicht Vergangenes vor heutigen Standards beurteilt.

1986 kam Ihr Buch heraus.

Niemand wollte es drucken, so habe ich Druck, Marketing etc. selbst gemacht. Das vierzehn Jahre alte Buch kommt jetzt bei einem großen Verlag neu heraus. Plötzlich wird es überall besprochen. Kevin Spacey hat sogar die Filmrechte gekauft.

Einige haben kritisiert, Sie würden sich in Details verlieren... ...ist doch komisch, dieser Vorwurf. Sonst würden alle sagen, meine Geschichte wäre nicht konsistent genug, was ich erzähle, wäre nicht ausreichend belegt.

Fragen: Tim Schomacker

Kenn Harper liest diesen Freitag um 19.30 im Übersee-Museum aus „Minik – Der Eskimo von New York“, Bremen, Edition Temmen 2000, 39,90 Mark.