Ohne Rast und Schlaf

Schlafstörungen sind ein weit verbreitetes und zunehmendes Problem. Fast jeder zweite Deutsche hat unruhige Nächte. In den letzten 100 Jahren hat sich die durchschnittliche Schlafdauer der Menschen in den Industrieländern um ein Fünftel verkürzt

von CLAUDIA BORCHARD-TUCH

„Der Schlaf ist eine Taktik, unbeschadet durch die Zeit zu reisen“, erklärt der Schlafforscher Thomas Wehr. Der Verlust einer einzigen Stunde Schlaf erhöht das Risiko eines Verkehrsunfalls um sieben Prozent und das eines tödlichen Unfalls um sechs Prozent. Schlafforscher schätzen die Kosten übermüdungsbedingter Unfälle in Deutschland auf 20 Milliarden Mark.

In den letzten 100 Jahren hat sich die durchschnittliche Schlafdauer der Menschen in den Industrieländern um ein Fünftel verkürzt. „Bis zu einem Siebtel der Bevölkerung ist wegen ihres katastrophalen Schlafs behandlungsbedürftig“, meint Jürgen Zulley, Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums der Psychiatrischen Klinik der Universität Regensburg. Einer neueren Untersuchung zufolge leiden zwei von drei Briten und sogar drei Viertel aller Schweden an Schlaflosigkeit. Am stärksten betroffen ist die Altersgruppe zwischen 25 und 34 Jahren, das sind die Jahre, in denen die Karriere beginnt und der Stress am höchsten ist. Bei den Deutschen, die in den fünf untersuchten Ländern am besten abschnitten, leiden „nur“ 45 Prozent an Schlafstörungen. Aber immerhin werden in Deutschland pro Jahr für 720 Millionen Mark Schlafmittel gekauft – mit wenig Erfolg: Fast die Hälfte der Patienten, die ein rezeptpflichtiges Hypnotikum nehmen, schläft nach wie vor nicht gut.

Der Körper gewöhnt sich nicht an Schlafdefizite. Es kommt zu Schläfrigkeit, Erschöpfung und Konzentrationsstörungen am hellichten Tag. Auf Dauer führt Schlaflosigkeit zu ernsthaften Gesundheitsproblemen. Nach Jürgen Zulley erhöht sich das Sterblichkeitsrisiko bei Menschen, die regelmäßig weniger als sechs Stunden schlafen, um 30 Prozent. Fast jeder dritte Patient mit Tagesschläfrigkeit entwickelt eine Depression.

Schlafstörungen sind vielfältig – die Amerikanische Gesellschaft für Schlafstörungen (Asda) hat einen Katalog von 88 verschiedenen Arten von Schlafstörungen zusammengestellt. Die Medizin unterscheidet vier Hauptformen: die Insomnien, hauptsächlich mit Problemen ein- und durchzuschlafen, die Hypersomnien mit übermäßiger Schläfrigkeit am Tag, die Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen (etwa bei Schichtarbeit oder Jetlag) und die Parasomnien, bei denen unerwünschte Ereignisse oder Verhaltensweisen den Schlaf stören. Die häufigste Form der Schlafstörung, die Insomnie, äußert sich auf vielfältige Weise. Der Schlaf bringt nicht die erwünschte Erholung, so dass der Tag müde und erschöpft begonnen wird. Die Schlafgestörten sind unkonzentriert, schlecht gelaunt und depressiv.

Beim Schlafwandeln, dem Somnambulismus, ist das Erwachen gestört. Der Betroffene bleibt im Schlaf hängen, handelt aber scheinbar wie ein Wacher. Er tut vieles, was man einem Schlafenden nicht zutrauen würde. Die Augen sind meist geöffnet, der Blick ist jedoch starr. Der Schlafwandler bewegt sich, aber der Gang wirkt steif. Für Thomas Pollmächer, Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, gibt es für den Somnambulismus zwei Erklärungen. Normalerweise hemmen vor der Traumphase körpereigene Systeme die Bewegung. Dies ist wichtig, damit wir nicht tun, wovon wir träumen. Thomas Pollmächer meint: „Entweder kommen die Hirnimpulse zur Bewegung zu früh – bevor die aktive Muskelhemmung aufgebaut ist. Oder diese kommt zu spät. Keine der Möglichkeiten ist zwar bisher beweisbar, aber sie sind die wahrscheinlichsten Erklärungen für das Schlafwandeln.“ Manche Menschen verwandeln sich sogar in Schlafesser. Wie die Schlafwandler erheben sie sich aus ihrem Bett, ohne das Bewusstsein zu erlangen. In Trance gehen sie in die Küche und stopfen unkontrolliert Nahrung in sich hinein.

Manche Menschen – in der Regel übergewichtig und mit Hochdruck – hören nachts auf zu atmen. Ursache für diese Apnoe kann eine Verengung in den oberen Luftwegen sein, zum Beispiel Fettpolster im Nasen-Rachen-Bereich, die den Luftstrom hemmen und so auch das lästige Schnarchen auslösen kann. Auch falsche Steuerbefehle des Gehirns können zum Atemstillstand führen. Bei Apnoe können Gewichtsabnahme, Verzicht auf Alkohol, Beruhigungsmittel und Maskenbeatmung helfen. In schweren Fällen ist eine Operation notwendig, bei der ein Loch in die Luftröhre geschnitten wird.

Manche Schlafstörungen kann man selbst in den Griff bekommen. Das fängt mit einfachen Dingen wie regelmäßiger Frischluftzufuhr an: einmal morgens und einmal abends lüften und die Heizung nur anstellen, wenn es draußen friert. 18 Grad im Schlafzimmer reichen völlig aus. Jeden Tag eine halbe Stunde Sport, ruhig und dunkel schlafen, für eine gute Matratze sorgen, nicht rauchen, drei Stunden vor dem Zubettgehen nichts Schweres essen, abends keinen schwarzen Kaffee trinken – all diese Maßnahmen können den ersehnten Schlaf eventuell wieder herbeiführen.

Wer mit dem Einschlafen Schwierigkeiten hat, muss sich beibringen, wann er müde und wann er wach zu sein hat. Auch das Wochenende sollte keine Ausnahme sein. Es ist völlig falsch, am Freitag und Samstag die Nacht zum Tage zu machen, um dann den gesamten nächsten Vormittag im Bett zu verbringen. Ein solcher Rhythmuswechsel stört die innere Uhr und verzögert in der Folge die Ausschüttung des Wachauf-Hormons Cortisol – es entsteht so etwas wie ein Jetlag.

„Schlafstörungen, egal welcher Ursache, können schnell chronisch werden“, meint Göran Hajak, Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums der Universität Göttingen. Wenn trotz aller Bemühungen über einen längeren Zeitraum (mehr als sechs Wochen) Probleme beim Ein- und Durchschlafen bestehen, die am nächsten Tag zu Müdigkeit, Leistungs- und Konzentrationsminderungen oder anderen körperlichen Beschwerden führen und so einen großen Leidensdruck bewirken, dann sollte man an eine ärztliche Behandlung denken. Zuerst muss der Arzt klären, warum der Patient nicht schlafen kann. Aber auch die Schlaflosigkeit an sich darf nicht außer Acht gelassen werden. „Eine neue Tendenz in der Behandlung einer akuten Schlafstörung ist es, Schlafmittel früh einzusetzen, um zu verhindern, dass Schlafstörungen chronisch werden. Sonst bleibt die Schlaflosigkeit als Krankheit erhalten, obwohl das auslösende Leiden bereits geheilt ist. Der Patient darf diese Medikamente allerdings nicht länger als vier Wochen täglich beziehungsweise nur drei- bis viermal pro Woche einnehmen, damit er nicht abhängig wird“, sagt Hajak. Die Abhängigkeitsgefahr ist bei den neuen Medikamenten, den so genannten „Nicht-Benzodiazepin-Hypnotika“, allerdings gering.

Für die Behandlung chronischer Schlafprobleme empfiehlt Göran Hajak unter anderem die Stimuluskontrolle: Liegt man nachts länger als 20 Minuten wach, steht man auf und verlässt das Schlafzimmer. Erst dann, wenn man meint, einschlafen zu können, geht man wieder zurück ins Bett. Klappt es wieder nicht, muss man erneut aufstehen. „Wenn Patienten fünfmal hintereinander wieder aufgestanden sind, erleben manche dann plötzlich, dass sie ins Bett gehen und sofort einschlafen,“ beschreibt Hajak die Wirkung.

Auch die Schlafrestriktionsmethode kann einem chronischen Patienten helfen. Er nennt die Stunden, die er in der vergangenen Nacht geschlafen hat. In der folgenden Nacht darf er genau diese Zeit im Bett verbringen. Hat er sie durchgeschlafen, kann er in der nächsten Nacht eine halbe Stunde länger ruhen. Liegt er dann wach, wird die Ruhezeit wieder verkürzt. Auf längere Zeit kann so wieder eine normale Schlafdauer erreicht werden.