■ Die 9.-November-Demo: Gewissensberuhigung, die Handeln erspart?
: Die Karawane zieht weiter

betr.: „Marsch, marsch für mehr Menschlichkeit“ u. a., taz vom 10. 11. 00

Natürlich ist es erhebender, mit 200.000 anderen Gutmenschen sich seiner Anständigkeit bewusst zu sein, als mit fünf Gleichgesinnten beim Kunststoffmüllsortieren an der Sammelstelle die ökologische Wende herbeizuführen: Der mentale Hintergrund ist hier wie dort Gewissensberuhigung, die weitergehendes Handeln erspart. Der nächste Afrikaner, dem wir unsere Leitkultur vorenthalten wollen, sitzt schon in Abschiebehaft. Der nächste Ölfrachter, der dem Meeresgetier den klebrigen schwarzen Tod bringt, ist schon beladen. Lasst uns also weiterhin unsere Kerzen anzünden, unseren Müll sauber trennen und auch sonst höchst anständig sein: Hauptsache, die Karawane zieht unbehindert weiter.

AUGUST MÜLLEGGER, Friedberg

[...] Leider muss zum wiederholten Male festgestellt werden, dass die politische Führung der CDU aus den Fehlern der Vergangenheit überhaupt nichts gelernt hat und sich mit dem Begriff von der „deutschen Leitkultur“ um Kopf und Kragen redet! Ich hätte es deswegen persönlich auch für konsequenter gehalten, wenn die CDU sich unter diesen Umständen von der Demonstration am 9. November fern gehalten hätte. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass viele mögliche Demonstranten deswegen „ideologisch verhindert“ waren. [...] THOMAS HENSCHKE, Berlin

Ich finde es schon gut, dass so viele Menschen, freiwillig, also ohne Druck – wie das z. B. in der DDR bei ähnlichen Anlässen üblich war – ihren Feierabend geopfert haben, um den glatzköpfigen Neubraunen zu zeigen, dass eine große Mehrheit unseres Volkes eben nicht wieder wie 1933 zur duldenden, ja sogar zunickenden Masse gehört. Dass dabei auch gewählte Politiker aller im Parlament vertretenen Parteien Zustimmung signalisierten, schmälert das Engagement der Demonstranten doch in keiner Weise.

Wer dahinein unlautere, niedrige Gedanken interpretiert, ist selbst von solchen befallen. Dass die Parteien unterschiedliche Auffassungen zu bestimmten Themen der Politik haben, ist doch normal. Es ist eben Ausdruck einer echten Demokratie, wenn sie ihre Ansichten auch kontrovers zur gerade herrschenden Gruppe vertreten dürfen. MANFRED FRANZ, Radefeld

[...] Nach dem Regierungswechsel ist offenkundig mehr Bereitschaft zum Mitmachen und kritischen Mitdenken in der Gesellschaft vorhanden als zu Zeiten der rechtslastigen Beschwichtigungs- und Verallgemeinerungspolitik unter Kohl. Das hat sich machtvoll auf der Demonstration vor dem Brandenburger Tor gezeigt und hat mich tief bewegt.

Diese neue Bewegung der kritischen Solidarität möge an Kraft gewinnen und sich auch in anderen Bereichen (Asylpolitik, Bildungswesen . . .) niederschlagen! GERNOT WAPLER, Berlin

[...] Die Reaktionen der CDU/CSU auf die Rede von Herrn Spiegel, oder das Urteil im Gubener Hetzjagdprozess zeigen deutlich, in welchem Land wir „Ausländer“ (Asylbewerber oder EU-Staatsbürger) hier leben. Daran ändert leider auch nichts, wenn 200.000 Menschen „schön brav“ auf die Straße gehen, um gegen „Kristallnacht“ und Ausländerfeindlichkeit in einem Atemzug zu protestieren.

Es wird hier so lange an Ausländerfeindlichkeit nichts ändern, bis alle Politiker begreifen, dass ihre Worte vom Volk in Taten umgesetzt wurden und werden. Meine besondere Hochachtung geht an Herrn Spiegel, weil er so mutige Worte für die „deutsche Leitkultur“ gefunden hat. PETER-PAUL KLINGER, Kassel

betr.: „Kein anständiger Aufstand“ von Reinhard Kahl, taz vom 10. 11. 00

[...] Kahl fordert auf, ansteckende Lust am Handeln und Liebe zur Welt zu entwickeln. Dem kann nur zugestimmt werden. Allein reicht das jedoch nicht aus. Dazu kommen muss die Überwindung des spezifisch deutschen Etatismus, der erlaubt, den Staat für alles in die Pflicht nehmen zu wollen und sich selbst dagegen von jeglicher Verantwortung frei zu sehen. Völkisches Gedankengut liefe in Folge einer solch veränderten Denk- und Handlungsweise ins Leere. Ehe es soweit ist und der „Aufstand“ sich darin zeigt, dass sich die „Anständigen“ derart selbst verändert haben, können wir andererseits die Politiker dieser Republik nicht davon entlasten, ihr „Schwert des Rechtsstaats“ (Schönbohm) gegen die barbarische Dissidenz auch einzusetzen.

GÜNTER LANGER, Berlin