Untergang der Wissenschaft

Immer mehr BSE-Fälle bei Rindern, immer mehr kranke und tote Konsumenten: Doch die Politiker und Wissenschaftler wiegeln weiter ab – allen voran in Großbritannien

Einzig positiv am Rinderwahn: Die Verbraucher haben ein gesundes Misstrauen entwickelt

Beim Rindfleisch ist alles in Ordnung, die Roast-Beef-Nation jenseits des Ärmelkanals kann wieder beruhigt ihre Leibspeise auftischen – wenn sie Professor Peter Smith glaubt. Der Chef des BSE-Ausschusses der britischen Regierung behauptete nach Veröffentlichung des staatlichen Untersuchungsberichts: „Ich glaube, dass auf Grund der Kontrollmechanismen, die im Lauf der letzten zehn Jahre eingeführt worden sind, das Risiko äußerst gering ist, dass verseuchtes Rindfleisch in die Nahrungskette gerät.“ Also wieder einmal Entwarnung? Keineswegs. Smiths Äußerung ist kriminell, denn er muss es besser wissen.

Der Untersuchungsbericht war von der Labour-Regierung in Auftrag gegeben worden, weil die Tories an der Macht waren, als der Rinderwahn ausbrach. So ist er kritischer, als er unter einer Tory-Regierung ausgefallen wäre, ohne jedoch zu dem Kern des Problems vorzustoßen. Im Grunde ist es eine Bankrotterklärung der Wissenschaft.

Man weiß über BSE und die beim Menschen auftretende neue Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (nCJK) so gut wie nichts. Inkubationszeit, Infektiosität, Entstehung, Übertragungswege und Verbreitung der Krankheit sind unbekannt; man weiß nicht einmal, ob es sich bei dem Erreger um ein Prion oder um ein langsames Virus handelt, das sich einer Eiweißhülle bedient. Warum betrifft nCJK vor allem junge Leute? Kann der Erreger, wie bei Schafen, durch das Blut übertragen werden? Was bedeutet das für Bluttransfusionen? Bei all diesen offenen Fragen steht für Smith ausgerechnet fest, dass Rindfleisch unbedenklich ist.

Das hat man auch früher behauptet. Den britischen Politikern ging es immer nur darum, den Schaden für die heimische Fleischindustrie möglichst gering zu halten, wie die Untersuchung ergab. Dabei geht der Bericht noch gnädig mit den Schuldigen um; lediglich die größten Lügner – allen voran der damalige Chefveterinär der Regierung, Keith Meldrum – werden gerügt. Viele Details aber, die belegen, dass eine konzertierte Desinformationskampagne von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft stattgefunden hat, sind unter den Teppich gekehrt worden.

Vor allem die Wissenschaftler kommen viel zu glimpflich davon. Dabei haben sie aus der „nationalen Tragödie“, wie Labour-Landwirtschaftsminister Nick Brown das Verbrechen bezeichnet, nichts gelernt. Nun stellen sie Prognosen über den weiteren Verlauf der Epidemie auf. Ein paar Hundert werden sterben, wenn wir Glück haben, andernfalls könnten es 136.000 Tote werden, so schätzte ein Team von der Oxford-Universität. Die Zahlen sind nicht nur reine Spekulation, sondern auch vollkommen irrelevant. Sie sollen suggerieren, dass man die Gefahr erkannt und daher gebannt habe.

Statistiken helfen niemandem. Kein Stück Rindfleisch gehört verkauft, wenn die Kuh nicht vorher auf BSE getestet wurde. Ein solcher Test hätte schon längst entwickelt werden können, doch die unabhängigen Wissenschaftler wurden von der Regierung kaltgestellt; sie bekamen weder Forschungsgelder noch Testmaterial. Man scheute die Entschädigungen für die Tiere mit positivem Ergebnis.

Nun beläuft sich die Rechnung für die britischen Steuerzahler bereits auf 20 Milliarden Mark. Ein Test kostet dagegen Pfennige. Die britische Regierung beteuert, dass man mit dem Kuhpass die Herkunft jedes Tieres lückenlos nachvollziehen könne. Selbst wenn dabei nicht betrogen würde – es nützt dem Verbraucher nichts, wenn er weiß, dass sein Beef aus Milton Keynes oder Wanne-Eickel stammt. Er will wissen, ob der Sonntagsbraten ihm womöglich einen langsamen, quälenden Tod beschert.

Es ist heimtückisch, dass die Wissenschaftler – von Ausnahmen abgesehen – ihre Forschung wirtschaftlichen und politischen Interessen untergeordnet haben. In einem Fall wurde es nur allzu deutlich: Als ich bei Dr. Richard Kimberlin von der neuropathogenetischen Abteilung in Edinburgh telefonisch um einen Interviewtermin bat, kam es zu einem Missverständnis: Kimberlin, der mir vom Chefveterinär Meldrum als „unabhängiger Wissenschaftler“ empfohlen worden war, glaubte, ich würde für diesen arbeiten. Er sagte, er habe Meldrum versprochen, Medieninterviews zu geben: „Ich werde irgendetwas erzählen, das in unserem Interesse ist.“ Hauptsache sei es, die Kollegen „loszuwerden“, die beim Mantra „British beef is best“ nicht mitmachten.

Die wenigen britischen Wissenschaftler, die mit ihren Warnungen die staatliche Beruhigungstherapie unterlaufen hatten, wurden von ihren Kollegen geächtet und von den Politikern, vor allem aus dem Landwirtschaftsministerium, als Narren hingestellt. Dieses Ministerium ist übrigens für Lebensmittelsicherheit zuständig. Genauso gut könnte man den Managern der Plutoniumschleuder Sellafield die Atomsicherheit übertragen.

Das Versagen der Wissenschaft ist freilich nicht auf Britannien beschränkt. Auch in Deutschland und in anderen europäischen Ländern waren wenig Zweifel zu hören. Eine Krähe hackt der anderen eben kein Auge aus.

Wissenschaftler, die beim Mantra „British beef is best“ nicht mitmachten, wurden zu Narren erklärt

Von Politikern ist nichts anderes zu erwarten. Der damalige Landwirtschaftsminister John Gummer, der seiner vierjährigen Tochter Cordelia 1991 vor surrender Kamera einen Hamburger verabreichte, um die Unbedenklichkeit von Rindfleisch zu demonstrieren, wurde in dem Untersuchungsbericht gerügt. Andere waren nicht besser: Paul Brown vom US-Gesundheitsministerium schob sich 1993 auf dem BSE-Symposium in Berlin bühnenreif eine rohe Scheibe britischen Rindfleisches in den Rachen. Und der damalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer, von Sachkenntnis völlig ungetrübt, sagte nach unserem Bericht über BSE bei Hühnern: „Das Huhn ist eine Ente.“

Es gibt keinen Grund, Politikern irgendetwas zu glauben. Und die britische Bevölkerung tut das auch nicht mehr. Obwohl Premierminister Blair und seine Wissenschaftlerriege verkünden, genmanipulierte Lebensmittel seien unbedenklich, machen die Verbraucher einen großen Bogen um die suspekte Ware, sodass die Supermärkte Gen-Food aus dem Angebot streichen mussten. Das ist der einzig positive Aspekt des Rinderwahns: Es hat sich ein gesundes Misstrauen gegenüber der Verflechtung von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft breit gemacht.

Seit 1996 ist die Zahl der nCJK-Opfer jedes Jahr um fast ein Viertel gestiegen; in Portugal, Frankreich, Irland und in der Schweiz nehmen die BSE-Fälle rasant zu. Doch die Labour-Regierung wiegelt genauso ab, wie die Tories es getan haben; sie arbeitet seit ihrer Machtübernahme 1997 weiterhin mit den Wissenschaftlern zusammen, die sich selbst diskreditiert haben, und mit den meisten Regierungsbeamten, die der Bevölkerung jahrelang Halbwahrheiten und Lügen aufgetischt haben. Die Mutter der vierzehnjährigen Zoe Jeffries, dem bisher jüngsten nCJK-Opfer, brachte es auf den Nenner: „Ich glaube, meine Tochter wurde ermordet.“ RALF SOTSCHECK