Blinde Hühner, schwarze Schafe

Nach dem großen Schweigen: Heute ist vielen Sozialdemokraten klar, daß das Unheil mit Klimmt seinen Lauf nehmen musste

„Wir mussten Reinhard Klimmt Zeit lassen, das Ende einer beachtlichen Karriere selbst zu verarbeiten“

aus BerlinJENS KÖNIG
und PATRIK SCHWARZ

Jetzt nur nichts anmerken lassen. Cool bleiben. So tun, als sei nichts Außergewöhnliches passiert. Ein Ministerrücktritt kommt schließlich alle Tage vor.

Zwei Stunden ist die Nachricht vom Abgang seines Verkehrsministers alt, da steht Gerhard Schröder im piekfeinen Hotel Esplanade in Berlin auf einem Podium und spricht vor dem Verband der Zeitschriftenverleger über die Bedeutung der Medien für den Standort Deutschland. Ein Heimspiel sozusagen. Die vielen Herren und wenigen Damen in den dunkeln Anzügen mögen Schröder, als Medienkanzler ist er fast einer von ihnen. „Wir wissen, dass Sie, was die Medien angeht, ein kompetenter Mann sind“, begrüßt ihn Hubert Burda, der Chef der Zeitschriftenverleger. Da kann der Kanzler sogar schon wieder lachen. „Diese Einschränkung kann ich nicht akzeptieren“, gibt er belustigt zurück. „Ich bin, nicht nur was die Medien angeht, kompetent.“

Der eine oder andere unter den Verlegern denkt da vielleicht gerade an Reinhard Klimmt. An das tagelange Hin und Her. An die absurden Wendungen des Ministers. An das Zögern des Kanzlers. Die Medienprofis wissen, dass Schröder gerade den Druck der Öffentlichkeit unterschätzt hat. Ausgerechnet er, der Medienkanzler, der doch besonders das Trio „Bild, BamS, Glotze“ ernst nimmt.

Schröder weiß, dass hier im Saal nicht wenige so denken und da draußen noch viel mehr. Also redet er erst einmal nicht über die Medien im Allgemeinen und den Standort Deutschland im Speziellen, sondern über sich selbst und sein Krisenmanagement der letzten Tage, ganz so, als handele es sich bei dieser noblen Veranstaltung um eine aktuelle Stunde des Bundestages. Er werde heute immer wieder gefragt, so Schröder, warum die Entscheidung im Fall Klimmt nicht eher gefallen sei. „Das ist eine berechtigte Frage“, sagt er. Immerhin.

Aber dann erzählt Schröder eine Version der Rücktrittsgeschichte, die so anrührend ist, dass er wohl hofft, die Zweifler würden ihre berechtigte Frage gleich wieder vergessen. Politik sei ein Geschäft, in dem gewisse Rücksichtnahmen nicht außer Acht gelassen werden dürften, sagt der Kanzler, der genau weiß, wovon er spricht, denn er hat in seiner politischen Laufbahn so manche Rücksichtnahmen außer Acht gelassen. „Wir mussten Reinhard Klimmt Zeit lassen, das Ende einer beachtlichen politischen Karriere selbst zu verarbeiten“, so Schröder, „erst dann konnte eine Entscheidung getroffen werden.“ Das hieße natürlich nicht, dass man die Dinge treiben lassen darf, schiebt er hinterher. Jetzt, wo der Kanzler elegant alle Schuld auf seinen Minister abgeladen hat, kann er einen Schlusspunkt setzen: „Ich denke, das war ein angemessener Umgang mit dem Problem.“ Dann kommt er zu seinem eigentlichen Thema. Schröder will Routine ausstrahlen. Die Karawane zieht weiter, pflegte Helmut Kohl zu sagen.

Nicht alle sind so zufrieden mit dem Kanzler wie der Kanzler selbst. Zwei Kilometer Luftlinie vom Hotel Esplanade steht ein nicht ganz unwichtiges Mitglied der SPD-Fraktion im Reichstags-Foyer und flucht. „Wir sind doch keine Bananenrepublik!“ Der Abgeordnete, sonst im Regierungslager für seine nüchternen Analysen geschätzt, kann kaum noch an sich halten. „Das war katastrophales Missmanagement des Kanzleramts!“ Direkte Angriffe auf den Chef sind in der SPD selten. Doch die Erleichterung über den Ministerrücktritt setzt bei einigen Fraktionsmitgliedern auch den Zorn auf ihre Oberen frei. „Schröder war doch dabei, sich den Ruf eines Instinktpolitikers aufzubauen, der ein Gespür für Stimmungen hat“, sagt kopfschüttelnd ein Sozialdemokrat, „das ist jetzt ein Trümmerhaufen.“

Die Schilderungen aus der Fraktion an diesem Tag ergeben nicht nur das Bild eines vorhersehbaren Desasters, sondern lassen das Führungsduo aus Gerhard Schröder und Fraktionschef Peter Struck wie blinde Hühner erscheinen – die aufgeregt gackernd der Bratröhre entgegenrennen. „Ich bin gegen Politiker, die lügen“, sagt einer der Verbitterten, „aber ich bin auch gegen Politiker, die keine Ahnung haben.“

Die Abgeordneten fühlen sich vorgeführt. Eigentlich sei der Rücktritt „5 nach 12“ gekommen, sagt einer. Vorhersehbar war der Strafbefehl gegen Klimmt schließlich schon seit mehr als einer Woche. Trotzdem glaubte Schröder an das Prinzip Kohl und wollte die Angelegenheit aussitzen.

Für die Fraktion nahm das Unheil am Montagabend seinen Ausgang, kurz nachdem Klimmt den gegen ihn erlassenen Strafbefehl öffentlich so gut wie akzeptiert hatte. An diesem Abend im Fraktionsvorstand bescheinigte der Strafrechtsprofessor Jürgen Meyer dem Minister Chancen, den Strafbefehl erfolgreich anzufechten. Eine juristisch richtige, aber politisch verheerende Einschätzung. Wie soll ein amtierender Bundesminister eine monatelange Gerichtsverhandlung über mehrere Instanzen durchstehen? Zumal wenn er nur Stunden vorher zur Zahlung von 27.000 Mark Strafe bereit war? Und das auch noch auf persönliche Empfehlung von Fraktionschef Struck? Obwohl es am Dienstag unter den SPD-Abgeordneten gärte und einige wenige bereits offen Klimmts Rücktritt forderten, schwor der Vorsitzende seine Fraktion auf diese Kehrtwende ein. Auch Schröder wollte plötzlich von einer Annahme des Strafbefehls nichts mehr wissen. Nach Klimmts Rücktritt wird Finanzminister Hans Eichel in gewohnt knapper Manier erklären, warum ein Widerspruch keine gute Parteilinie abgibt: „Das Schlimmste in der Politik ist, wenn man nicht ganz klar ist, so oder so.“ Selbst Franz Müntefering, als SPD-Generalsekretär stets Schröders treuester Vasall, räumt nachträglich ein, dass die Verteidigungslinie keine war: „Das hat die Ausgangslage nicht wirklich verändert. Das wäre so oder so gekommen.“ So ungewöhnlich derartige Eingeständnisse für den politischen Betrieb sind, so wenig können sie das Mismanagment von Struck und Schröder überstrahlen. „Sie haben sich selber schon ein gutes Stück entzaubert durch ihre Hilflosigkeit“, sagt einer der Kritiker.

Immerhin zeigen die Bekenntnisse, dass selbst den Genossen der Rücktritt ihres Ministers unausweichlich schien. Zweifel sind daher angebracht, ob Reinhard Klimmt am Mittwochabend seinen letzten Gang ins Kanzleramt tatsächlich aus freien Stücken angetreten hat. Schröders Berater hatten schon zu Beginn durchblicken lassen: Der Ausgang der Affäre hängt vom öffentlichen Echo ab. Die Bild erklärte den Fall Klimmt gestern zu „Schröders Problem“. Ein Sozialdemokrat ist überzeugt: „Zwei, drei Tage später hätte der Kanzler lichterloh in Flammen gestanden.“

Am Ende kommen die Karriere und die Affäre von Reinhard Klimmt ganz schnell zu einem Ende. Nachdem der Minister sich von seinem Chef und Kanzler getrennt hat, sitzen im Kanzleramt Schröder, Müntefering und Struck beisammen. In den letzten Tagen hatte es keinen Mangel gegeben an Vorschlägen, wer denn Klimmt beerben könnte. Staatssekretär Sigmar Mosdorf aus dem Wirtschaftsministerium etwa, der schon so oft für Ministerweihen im Gespräch war, dass ihm die SZ ein „Prince-Charles-Syndrom“ bescheinigt. Doch auch in dieser Nacht kommt er nicht zum Zuge, denn Mosdorf stammt aus Baden-Württemberg. Am Tisch sitzt schließlich NRW-Landeschef Müntefering. Der möchte unbedingt einen der Seinen durchsetzen, denn seit seinem Abgang als Klimmts Vorgänger im Ressort für Verkehr sitzt kein Nordrhein-Westfale mehr auf einem Ministerstuhl. So wird Kurt Bodewig Minister.

Um 9 Uhr morgens wird die SPD-Fraktion zur Sondersitzung einberufen. „Ich dachte, dass heute Nacht noch was mit den Grünen und der Rente passiert ist“, sagt ein saarländischer Abgeordneter. Der Kanzler verkündet die Entscheidung. Klimmt bedankt sich mit Ironie für den „unterschiedlichen Grad an Solidarität“, den er erfahren habe. Dann soll spontaner Beifall ausgebrochen sein. Weil man dankbar war für die gute Zusammenarbeit. „Und weil er den Weg frei gemacht hat.“ Dafür sind Verkehrsminister ja eigentlich da.