Wo ist der Hass?

Wir wissen Bescheid. Wir sind die Wissensgesellschaft. Wir wissen zu viel und verstehen zu wenig. Nicht uns selbst. Nicht die „Unwissenden“ und Ausgeschlossenen, ihre dumpfe Wut, ihren Hass. Den wir an sie delegiert haben. Weil wir von unserem eigenen Hass nichts wissen wollen. Zur aktuellen Rechtsradikalismusdebatte und dem Bescheidwissen als Krankheit der Stunde

von CHRISTIAN SCHNEIDER

Wir wissen Bescheid. Wir unterscheiden uns allenfalls in den Konsequenzen. Derzeit sind wir überwiegend für Draufhauen. Zusammen mit dem Kanzler („unnachgiebig“), dem Kaiser („gnadenlos“) und dem Mann auf der Straße. Das Bescheidwissen ist die Krankheit der Stunde. Auch wenn wir dafür Gründe geltend machen können: Der rechtsextreme „gewaltbereite Jugendliche“ ist eine seit den Neunzigerjahren eher überforschte Spezies. Wir haben ihn fest im wissenschaftlichen Visier. Und selbstverständlich wissen wir auch: Dies ist kein Randgruppenproblem. All das kommt aus „der Mitte der Gesellschaft“.

In der aktuellen Rechtsradikalismusdebatte formiert sich die Zweidrittelgesellschaft als Wissensgesellschaft sui generis. Wir sind die Volkskundler. Von den Soziologen, die über die „Überflüssigen“ schwadronieren, um selber medial flüssig zu bleiben, über die besorgten Therapeuten mit dem human touch bis hin zu den Standortethikern, die ihre Leibstandorte mit allen Mitteln clean halten wollen. Die „Gemeinschaft der Demokraten“ richtet einen Schirm des Wissens auf, der unmerklich eine Grenze markiert. Als Demarkationslinie gegenüber denjenigen, die über das Gegenteil von Wissen verfügen und das, was sie zum Ausschluss bestimmt: die dumpfe Wut der „Unwissenden“.

Die „Mitte“, die, seitdem sie neu ist, ohnehin in ihren Grenzen unklar wird, trennt sich vom „Rand“ durch ein Gefühl: den Hass. Denn den Hass, so ist überall zu lesen und zu hören, haben sie, nicht wir. Wie rief schon vor Jahren bei der legendären Veranstaltung „Rock gegen Rassismus“ eine führende deutsche Pop-Persönlichkeit ins Publikum: „Wir haben die Liebe – sie haben nur den Hass.“ Haben wir?

Sie fragen sich, wer wir sind? Nun, Sie. Oder ich. Wir eben, die auf- und abgeklärten Bewohner der neuen Mitte: vergleichsweise gut ausgebildete, aufgeschlossene, strebsame Menschen, deren Köpfe hinter klugen Zeitungen, wie taz oder FAZ, zu finden sind. Wir: überparteilich, ungebunden. Aber was wissen wir eigentlich wirklich über den Hass, außer dass wir zu wissen meinen, wo er angesiedelt ist? Alles in allem erstaunlich wenig, am wenigsten über seine kollektive Gestalt.

Schon beim Individuum erweist sich Hass als überraschend vielfältiges Gefühl. Vor allem: Es ist wirklich ein Gefühl, kein Affekt – nichts, was sich situativ bildet und, wie der Zorn, verraucht. Affekte sind reaktiv, meist punktuell wirksam, Gefühle haben eine Geschichte. Und sind in der Lage, Geschichte zu machen. Hass ist nicht einfach da, er wächst, ist aber – was wir gerne vergessen, wenn wir über Hoyerswerda reden – durchaus nicht immer pathologisch: In extremen Bedrohungssituationen ist es normal, ja rational, wenn sich Wut in Hass verwandelt. Und nur in seiner extremsten Form ist sein Ziel die physische Zerstörung des gehassten Objekts. Er kann auch anders: Als moralische Aggression kann er zum Rückgrat des heroischen Verteidigers einer Weltanschauung, eines ethischen Prinzips, eines Glaubenssystems werden. Er kann dazu verwendet werden, den anderen als moralisches Subjekt zu zerstören.

Hass ist in seinen verschiedenen Aggregatszuständen tief in unsere Kultur eingelassen. Die Frage „Müssen wir hassen?“ hat eine eindeutige Antwort: Ja. Wir brauchen den Hass für unsere individuelle – und, wie es scheint, auch kollektive – Selbstregulierung. Als „Grenzgefühl“ dort, wo andere Arten der Grenzziehung versagen. Wir bekommen ihn so wenig mit frommen Wünschen aus der Welt wie die Aggression, den Krieg, das Vorurteil. Worauf es allein ankommt, ist seine Zivilisierung. Sie ist nur unter zwei Voraussetzungen möglich: Wenn wir ihn als unsere Realität anerkennen, als Realität, die sich nicht beliebig auf andere verschieben lässt. Und wenn wir die grundlegendste aller Erkenntnisse, die wir über ihn haben, ernst nehmen: dass Hass sich aus einer ursprünglich intensiven Bindung entwickelt. Dass wir „aus vollem Herzen“ nur die hassen können, denen unsere Liebe so sehr galt, dass wir von ihr und ihnen abhängig wurden. Hass bildet sich dort, wo wir in ohnmächtige Abhängigkeiten verstrickt werden. Das Grundmuster allen Hassens ist Reaktion auf Ausschluss.

Der Hass, den wir den Bewohnern des Randes unserer schönen neuen Mitte unterstellen, ist real. Er hatte genügend Zeit zu wachsen. Und er wird in bestimmten Milieus „sozial vererbt“: Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, ist in den Bezirken unserer Gesellschaft endemisch geworden, für die es noch nicht einmal einen Namen gibt. Es sind keine Ghettos, keine Favelas, keine Elendsquartiere. Es sind einfach trostlose Orte ohne symbolische Besetzung, Orte des Ausschlusses eben. Sie müssen nicht am Stadtrand liegen, und wer sich in ihnen bewegt, muss nicht bettelarm sein, nicht einmal „hoffnungslos“. Er versteht nur, ohne Nachdenken, dass er hier ist, weil er nirgendwo anders hingehört. Und er versteht genug von der Gesellschaft, um zu wissen, dass es billigend in Kauf genommen ist. Er hat mithin Gründe zum Hassen.

Wir sagen „er“ und denken fast automatisch an den Osten, wenn wir vom Rand reden. Ist der Hass vielleicht doch ein Männer- und ein Ostproblem? Nein. Wohl aber verschränken sich hier alte und neue Formen des Ausschlusses mit einer spezifischen „männlichen“ Reaktion. Im Osten werden die Zonen des Ausschlusses von einem Gemisch ziemlich junger und ziemlich alter Leute bevölkert, deren Überflüssigkeit sichtbar aus dem gesellschaftlichen Überfluss absticht. Stilbildend sind die jungen Männer, die zu DDR-Zeiten vielleicht die Chance gehabt hätten, einen Job „in der Produktion“ zu ergattern. Im neuen Deutschland hat man ihnen Umschulungen angeboten, die so ostentativ die Modernisierung des Nutzlosen demonstrieren, dass man darüber nur verzweifeln kann.

Man? Mann. Die alte Frage: Ist man das noch, wenn man nichts als die Dauerniederlage zu bieten hat? Nichts in der Hose, nichts auf der Hand? Dann wächst der Hass leicht im Einklang mit dem Muskel, der sich wenigstens preiswert trainieren lässt. Und Mann trifft in den (sub-)proletarischen Selbstqualstudios die Gleichgesinnten, die auch den eigenen Körper als letzte Bastion des Wunsches entdeckt haben, sich und anderen etwas zu beweisen. Und vielleicht auch zufällig noch der dazu passenden Partei angehören. Man muss einmal den Unterschied zwischen den Unter- und Oberklassenkrafträumen erlebt haben, um zu verstehen, wie unterschiedlich Wut, Hass und Selbstqual noch in den scheinbar gleichen Prozeduren zum Ausdruck kommen. Die „proletarische Männlichkeit“, einst eine Stolzkategorie der Arbeiterklasse, ist in ihrer neuzeitlichen Elendsform auf eine Gestalt der virtuellen (Selbst-)Zerstörung regrediert, die fast als Synonym für den Hass steht. Wenn er sich im Umweg über die Zurichtung des eigenen Körpers Bahn bricht, sitzt der Übersprung zur Gewalttat locker.

Noch ist das eine männliche Spezialität. Denen wir – zu Recht – Hass unterstellen, ist der Ausschluss buchstäblich in Fleisch und Blut übergegangen. Ihre Körper zeugen davon. Und ihre Sprüche. Im Zweifel bedienen sie sich der Klischees, die wir für sie schaffen. Wenn sie jemanden totschlagen, entschuldigen sie das leidenschaftslos mit „Ausländerfeindlichkeit“ und Hass. Sie haben ihre Lektion gelernt und das angenommen, was wir ihnen aufgedrängt haben. Nur – wir haben das noch nicht recht verstanden. Sie sind viel klüger, als wir meinen. Sie lesen den Ausschluss auf den Gesichtern, die wir ihnen entgegenhalten wollen, um unser Engagement, unsere Verantwortungsbereitschaft zu demonstrieren.

Es ist schon eine komische Sache mit den Gesichtern gegen den Hass. Vor einer Generation, im berühmten Jahr 1968, äußerte ein sozialdemokratischer Spitzenpolitiker, man müsse den Unruhestiftern „nur ins Gesicht sehen“, um ihr totalitäres Wesen zu entdecken. In dieser Zeit hatte die Diskussion um den Hass eine erste Hochkonjunktur. Damals ging es nicht um den rechten, sondern um den linken Hass. Von der Generation, die als erste deutsche (was man damals noch nicht wusste) in einen stabilen Frieden hineinwuchs; von den Kindern derer, die bereit gewesen waren, an der nationalsozialistischen Hassorgie teilzunehmen.

Was heute an der Diskussion der späten Sechzigerjahre verwundert, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Hass als „politische Leidenschaft“ anerkannt, ja dann, wenn er den „Richtigen“ galt, gutgeheißen wurde. Damals wurde eine Gesellschaft, die unter dem Verdacht stand, sich in entscheidenden Dimensionen nicht von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit gelöst zu haben, mit „Radikalen“ konfrontiert, die unverhohlen und aggressiv ihren Ekel vor und ihren Hass auf den Nazismus und seine in Staat und Gesellschaft konservierten Überreste artikulierten. Dieser Hass wurde von der Mehrheitsgesellschaft mit Entsetzen (und Hysterie) notiert – und doch war er in gewisser Weise das kleinste gemeinsame Vielfache, das die jungen Radikalen mit jenen Liberalen und Konservativen verband, die ebenfalls keinen Hehl aus ihrer strikten Opposition gegen alle Formen von „faschistischer“ Gewalt machten.

So seltsam es heute klingen mag, der Hass war in diesem Sinne eine verbindende, eine „demokratische“ Qualität. Das Vorwort eines 1969 erschienen Buches, in dem Gespräche mit politischen Köpfen unterschiedlichster politischer Couleur gesammelt sind, beginnt mit dem Satz: „Der Hass überlebender Opfer des Nationalsozialismus gegen Hitler und seine Knechte ist von anderer Qualität als der Hass der braunen Schläger gegen Juden, Kommunisten und Demokraten.“

Hass muss demnach differenziert werden – seine mögliche Legitimität jedoch steht außer Frage. Der Hass war nicht nur als politische Leidenschaft präsent und anerkannt, man konnte ihn noch in sich selber spüren: Er war, anders als heute, Teil des „Wir“ der neuen demokratischen Gesellschaft: „Ich glaube“, sagte Alexander Mitscherlich in einem der Gespräche des Buches, „dass wir selbst bereit zum Hass, bereit zur Vernichtung sind, auch wenn sehr starke Verankerungen in unserer eigenen Gesellschaft uns daran hindern, unseren Nachbarn umzubringen. (...) Es scheint mir (...), dass wir eine unbewusste (...) Befriedigung aggressiver Hoffnungen erleben, und zwar im Widerspruch zu unserem Gewissen. Entgegen unserem bürgerlichen Rollengesicht befriedigen wir unbewusste Wünsche.“ Es gab damals, Mitscherlich spricht es aus, die persönlich verspürte Angst vor einer „Wiederholung der Geschichte“.

Und heute? Niemand glaubt ernstlich an so etwas wie eine Wiederholung. Die Aufregung, so berechtigt und notwendig sie in jedem einzelnen Fall und Überfall ist, in dem Menschen zu Schaden kommen, so wenig „stimmt“ sie im Hinblick auf die Angst, es drohe ein neuer Nazismus. Was wir zu Recht fürchten, sind – europäisch gemilderte – lateinamerikanische Verhältnisse: eine Gesellschaft nicht der bewachten Reichenghettos, sondern eine, in der das „dritte Drittel“, das wir mit dem Kainsmal des Hasses versehen, in für uns höchst unsicherer Weise „ausgegliedert“ wird.

Warum hat dann die Nazireminiszenz solche Konjunktur? Vielleicht deshalb, weil die neue Wissensgesellschaft der Zweidrittelmitte zu viel weiß und zu wenig versteht. Es kämpft sich besser gegen Nazi-Windmühlen als gegen das reale Problem des gesellschaftlichen Ausschlusses. Mit dem Nazi-Etikett lässt sich das Spiel des gesellschaftlich verdrängten, an den Rand geschobenen Hasses erheblich besser spielen. Denn anstatt wenigstens zu versuchen, den Hass als Folge des Ausschlusses zu verstehen, tun wir das Gegenteil: Wir verleugnen unseren Hass und schließen diejenigen aus, an die wir ihn delegieren. Wir wiederholen und verdoppeln damit die Urgeschichte ihres Hasses.

Das Problem, das in der aktuellen Debatte deutlich wird, ist die generelle gesellschaftliche Delegitimierung des Hasses. Er wird aus der „guten Gesellschaft“ einfach ausgeschlossen. Bravo. Wie sagte Mitscherlich? „Bürgerliches Rollengesicht“. Ist es am Ende das, was wir – schon mehr als spätbürgerlich – noch einmal herzeigen wollen? Wenn das zutrifft, dann wäre es eine furchtbare Demonstration unseres Narzissmus und unserer Hilflosigkeit. Denn wer sein Rollengesicht zeigt, hat nicht nur die Möglichkeit, er hat den Wunsch, andere zu verstehen, längst aufgegeben. Und dann bleibt wirklich nur eines: Draufhauen.

CHRISTIAN SCHNEIDER, 49, arbeitet als Soziologe und Forschungsanalytiker am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Zuletzt erschien von ihm „Trauma und Kritik. Zur Generationengeschichte der Kritischen Theorie“, Westfälisches Dampfboot, Münster 2000, 270 Seiten, 48 Mark