Pierrot mit den Scherenfingern

■ Die Bilder dominierten: Das dänische Gastspiel „Pierrot Lunair“ auf Kampnagel

Von vornherein war klar, wo hier die Musik spielt: etwas zu weit rechts. Das Rennen zwischen Schönbergs Musik zu Pierrot Lu-naire und die Inszenierung des Kaleidoskop Theatres hatten die fünf Musikerinnen des Athelas Sinfonietta Orchestras von Anfang an verloren: Aufführungsbedingt mussten sie mit einem Platz rechts der Bühne vorlieb nehmen.

Die Bühne (Jesper Sønderstrup) ein Plateau, in der Mitte ein Teich, über allem ein mächtiger Mond. Die Musik setzt ein. Mezzosopran (Helene Gjerris) und der stumme Pierrot (Mikkel Harder Munck-Hansen) beginnen ihr Spiel. Er umschleicht sie, und sie spielt mit ihm. Doch das märchenhafte Wesen im weißen Kleid mit den hexenähnlichen Scherenfingern (Kostüme: Hanne Mørup ) behält immer Oberhand über den armen Pierrot.

Bodennebel. Die Sängerin sitzt im Wasser und gebärdet mit ihren Armen: „Eine blasse Wäscherin wäscht zur Nachtzeit bleiche Tücher, nackte, silberweiße Arme streckt sie nieder in die Flut.“ Zwischen den Protagonisten kommt es zu einer ersten Annäherung, doch sie wirft ihn sofort wieder fort. „Deine ewig frischen Wunden gleichen Augen, rot und offen.“ Pierrot steht am Bühnenrand in Rot getaucht, seine Augen aufgerissen und starr, und reckt seine Hände flehend ins Pub-likum. Die Bilder nehmen das gesamte Blickfeld ein, überdimensional übertönen sie zeitweilig sogar die Musik.

Beim ersten Bühnenumbau verschlägt es dem Publikum die Sprache: Der Boden wandelt sich in eine riesige Industriestahlwand, der Mond senkt sich über die Wasseroberfläche und bildet einen Nachen über dem See.

In der Wand ist ein Loch entstanden, eine feuerrote Wölbung, eine Höhle, eine sexuelle Form.

Das Thema hatte sich bereits angedeutet: Sie und Er. Im zweiten Teil wird der Kontakt intensiver. Keck geht sie auf Pierrot zu, lockt ihn, legt sich nieder, er dringt in sie ein: „Nachts, mit seinem Zechkumpanen, steigt Pierrot hinab.“ Das erste Mal ist er glücklich, er lacht. Doch sofort scheucht sie ihn wieder auf. Wie eine Königin steht sie erhaben in dem Loch, umgeben von riesigen Würmern. Ekel. Schreckensbleich rennt Pierrot davon.

Der dritte Teil besticht durch große Distanzen und präzise Symmetrie in den Bewegungen. Martin Tulinius' Pierrot Lunair endet in einer ungewissen Harmonie. Die Bilder stimmen, sie sind großartig und voll Komik, doch das Problem ist die Musik. So kunstvoll und komplex Schönberg sie geschaffen hat, es gelingt ihr nicht aufzuwühlen, zu berühren. Sie ist zu dezent, wahrhaftig Kammermusik. Doch dass die Bilder bleiben, allein dafür war Pierrot Lunaire ein freudiges Erlebnis, ein Gewinn.

Christian T. Schön