Auslaufendes Eislaufmodell

Suche nach „neuen Reizpunkten“: Vor dem heutigen Weltcupstart muss sich die Eisschnellläuferin Gunda Niemann-Stirnemann fragen lassen, ob ihre Zeit nach 27 Goldmedaillen womöglich vorbei ist

aus Berlin MARKUS VÖLKER

Versuch, ihr nur in die Augen zu schauen, nur in die Augen, nicht auf den Slip und nicht auf die hautfarbene Strumpfhose! Sagt sich der leicht irritierte Reporter. Gunda Niemann-Stirnemann sitzt in der Umkleidekabine der Eisschnellaufbahn Berlin-Hohenschönhausen und ist gerade im Begriff, ihren Laufanzug auszuziehen. Weil sie keine Zeit hat und schnell zum Oberschenkelkneten muss, wurde der Berichterstatter von Manager und Ehemann Oliver Stirnemann zu ihr in das Kabuff getrieben, in dem sich Sportler und Sportlerinnen gemeinsam umkleiden und die Schlittschuhe schnüren, bevor sie aufs Eis rutschen. Gunda – nennen wir sie aufgrund des komplexen Nachnamens einfach so – scheint die peinliche Szene nicht zu berühren. Als ob sie vor einer Kamera stünde, referiert sie in dem ihr eigenen Stil, dem Märchen-Erzähl-Stil.

In der Zeitung junge Welt stand einmal: Gunda, die verhinderte Kindergärtnerin, lese ständig aus einem Märchenbuch vor „und an den schwierigen Stellen besonders toll betonen, damit es die letzten Dödel verstehen“. Weiter ätzte das Blatt über den „Mike Tyson der rhythmischen Sportgymnastik“ und schloss mit der Erkenntnis: „Gunda, du bist so eloquent wie eine Entspannungskassette fürs Autogene Training.“

Man kann ihre geflissentliche Missachtung der delikaten Situation in der Umkleide auch als ziemlich professionell bezeichnen. Da ist eine Sportlerin, die alles für ihren Sport gibt, selbst in jeder noch so unmöglichen Situation. Immer steht dieses „Ich will“ im Raum, das auch als Titel ihrer Biografie (Untertitel: „Traumkarriere zwischen Tränen und Triumphen“) herhalten musste. Sie wollte – immer die Erste sein und ganz viele Goldmedaillen holen. Das ist ihr gelungen. 27-mal bei Olympia, WM oder EM. Dazu: 27 Streckensiege im Gesamtweltcup. Damit ist sie die erfolgreichste Wintersportlerin der Neunziger in Deutschland. Jetzt ist sie 34 Jahre alt und hat sich entschieden, bis Olympia in Salt Lake City 2002 weiter Runden zu drehen. Am Wochenende wird die Erfurterin beim Weltcup über 3.000 und 1.500 Meter an den Start gehen.

Und das Alter, ist das wirklich kein Problem? „Ach, das mit dem Alter“, sagt Gunda, „das ist doch schon längst überholt. Es geht nur um die Bereitstellung zum Sport.“ Bereitstellung? „Ja, die neuen Reizpunkte, das Am-Ball-Bleiben ist wichtig.“ Sie hat wohl das leuchtende Vorbild von Lothar Matthäus im Sinn, der hoch betagt noch den Ball treibt. Sie aber läuft seit jeher schnell über gefrorenes Wasser, am liebsten über drei und fünf Kilometer, nämlich seit dem Zeitpunkt, als sie feststellte, dass ihre Oberschenkel fürs Radfahren und für die Leichtathletik zu gewaltig sind. Also stieg sie 1984 beim SC Turbine Erfurt in die neu entstehende Eisschnelllauf-Abteilung um – mit 18 Jahren erst. Anfangs stolperte sie staksend übers Eis.

Und auch heute ist ihre Technik noch nicht ausgereift, was allerdings nie ein Problem war, kompensierte sie doch die Defizite mit urwüchsiger Kraft. Man ist überrascht, dass sich bei dieser Frau mit der eingebauten Gutmenschengarantie das harte Training unter den Augen eingefurcht hat. Auch die quäkende Mädchenstimme legt den Schluss nahe, aus ihrem Rucksack luge stets ein Kuscheltier heraus. Trotzdem: Die Oberschenkel scheinen imposanter denn je, und wenn sie loslegt mit ihrem Redeschwall, der das Publikum des Disney Club oder der Mini Playback Show im Fernsehen begeistert, dann schalten die Zuschauer, die den Teddybären schon längst im Keller verstauben lassen, schnell um. „Ganz fürchterlich und imageschädigend“ findet der Ghostwriter ihrer Biografie diesen „Interviewmotor“, der bei der Thüringerin immer anspringt, sobald Kameras und Mikrofone nahen. Dabei sei sie entgegen ihrem ausgeprägtem sportlichen Selbstbewusstsein sehr sensibel, ja fast ängstlich. Der Sportdirektor der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG), Günter Schumacher, weiß: „Die Gunda lieben alle. Kinder, Omas, Opas, Tanten, Onkels.“ Und die andern? Hm. Dafür ist die Inzellerin Anni Friesinger zuständig, die die „New Wave“ des Eissports verkörpere oder Claudia Pechstein aus Berlin.

Seit dem Frühjahr hat Gunda einen neuen Trainer: Klaus Ebert aus Chemnitz. Er hat sie als „begnadeten Sportler“ kennen gelernt. Gunda war auf der Suche nach dem, was sie „aufpeppt, antippt“. Denn: „Es ist ganz schwer für mich, wieder jedes Jahr zu den Leistungen zu finden.“ Sie versuchte es mit der neuen Trainingsgruppe um die Langstreckler Frank Dittrich, Jens Boden und Knut Morgenstern. Die sind bekannt für „sauberes“, „qualitatives“ Üben, also schloss sie sich kurzerhand den Eischnellläufern an.

Die Männer in der Gruppe staunten über Gundas professionelle Einstellung. Gunda freut sich wiederum über die „neuen Reizpunkte“. Über den im Rachen allerdings nicht. Seit einer Woche plagt sie ein kleiner grippaler Infekt. Was nicht als Ausrede ihres dritten Platzes bei den Deutschen Meisterschaften vor einer Woche über 1.500 Meter herhalten soll, sagt sie ein wenig schmollend. Sie fühle sich von der Konkurrenz aus dem eigenen Lager eben herausgefordert, neu motiviert. Das Wort Wachablösung wird tunlichst vermieden. „Das war keine Niederlage“, erklärt sie, und ihr Mann stellt umgehend seine Lieblingsfrage an die Medien: „Ja, was wollen die denn? Siegt Gunda, ist es langweilig, verliert sie, ist es eine bittere Niederlage.“ Für das Wochenende hat sich das Duo, das zuletzt mit einem Stromerzeuger aus Thüringen einen gut dotierten Werbevertrag unterzeichnete, nichts Bahnbrechendes vorgenommen. Die Form müsse erst bei der Einzelstrecken-WM in Salt Lake City Anfang März gut sein.

Und überhaupt versucht sie, Gelassenheit an den Tag zu legen. „Bis 2002 möchte ich gesund bleiben und mir eine Form antrainieren“, sagt sie und schaut so entschlossen wie unschuldig. Mehr nicht? Und gewinnen? Noch ein paar Medaillen? „Eine Form antrainieren“, wiederholt sie noch einmal. „Und gesund bleiben.“ Sie ist inzwischen wieder eingepackt in dicke Trainingsklamotten.