Die Kunst des Weglassens

Societyfrau trifft auf Jugendliebe. Das ist die Ausgangssituation in Hélène Lenoirsatemlosem Roman „Ihr Mädchenname“. Er erzählt die Geschichte einer Befreiung

Er sieht sie. Sie sieht ihn. Es ist einer dieser ganz besonderen Augenblicke. Herzrasen, schwitzige Hände, zitternde Knie, Sekunden der Entscheidung. Aber zu spät, der Autobus, aus dem er gerade ausgestiegen ist und sie nicht, setzt sich bereits wieder in Bewegung. Das war’s.

Zwanzig Jahre später ist sie verheiratet und hat nach einem ermüdenden, aussichtslosen Kampf ihren Platz in der Familiendynastie ihres erfolgreichen Mannes eingenommen. Da begegnet sie dem damals so unwiderstehlich Schauenden wieder. Er fragt sie nach ihrem Mädchennamen, sie bricht daraufhin mit ihrer Familie. Eine Handlung wie aus einem Groschenroman. Eigentlich. Doch die Autorin Hélène Lenoir erzählt, ohne Luft zu holen, geschliffen und mit Schwindel erregendem Wortwitz. Sie hat einen Roman der Leidenschaft geschrieben, der in seiner Eleganz an französische Film der 60er-Jahre erinnert.

Hélène Lenoir wurde 1955 in einem kleinen französischen Ort geboren, studierte in Paris Germanistik und lebt seit mittlerweile zwanzig Jahren in Deutschland. „Ihr Mädchenname“, ihr viertes Buch, ist das erste, das in deutscher Übersetzung erscheint.

Ein sparsamer Roman. Der erste Abschnitt kommt ganz ohne Namen aus, im Hauptteil bleiben die Umstände, die Britt Casella in ihre unglückliche Ehe trieben, unausgesprochen, im dritten Teil fehlt der Schluss. Diese Kunst des Weglassens perfektioniert Hélène Lenoir in ihrer Sprache. Atemlos, in nicht enden wollenden Sätzen, die oft nicht mehr sind als aneinander gereihte Wortfetzen, reden und denken die Personen zugleich. Gesagtes lässt sich von Ungesagtem kaum mehr unterscheiden. „. . . kann man so sein Leben leben, das ganze Dasein, würde Justus sagen, ein ganzes Dasein, so, fünfundzwanzig, dreißig Jahre noch, ohne zu wissen, von einem Tag in den nächsten geschoben, von einem Jahr ins andere, und ohne es zu merken, ohne etwas zu haben, außer einem Kind, das jetzt vielleicht, heute morgen . . . Sein Blick, dieser Blick . . ., als hätte er alles gesehen, als wüsste er – aber was?“

So wenig Britt Casella über sich selbst weiß, so viel verschweigt der Roman über sie. Nach außen hin schickt sich die Societyfrau und Mutter zweier Kinder an, in den traditionellen französischen Familienstrukturen aufzugehen. Nur ein Konflikt, ein längst verloren geglaubter Kampf mit sich selbst, füllt die Leere in ihrem Kopf und schürt den Hass auf die unmissverständlich zur Schau gestellte Herzlichkeit des Familienclans: die Sehnsucht, aus dem goldenen Käfig auszubrechen. Fliehen.

Und das gelingt ihr, als die Frage nach ihrem Mädchennamen unterdrückte und vergessene Erinnerungen an ihre Jugend und all die ungelebten Möglichkeiten hervorbrechen lässt. In diesem Sinne liest sich das Buch als Geschichte einer Befreiung.

Doch das allein wäre zu eindimensional gedacht. Mehr noch ist es ein Emanzipationsroman, denn Britt verlässt ihre Familie auf der Suche nach dem wahren Glück. Aber auch das allein wäre noch zu banal. Nicht zuletzt ist es eine Liebesgeschichte, die erst wirklich beginnt, wenn das Buch endet.

Mag sein, dass die Geschichte jeglichem Klischee entspricht und bereits unzählige Male literarisch ausgeschlachtet wurde. Es sind Hélène Lenoirs erzählerische Fantasie und sprachliche Raffinesse, deren Modernität besticht. „Ihr Mädchenname“ ist ein äußerst intimer Roman – spannend, genau. Erst am Ende kann man wieder Luft holen.

PAMELA JAHN

Hélène Lenoir: „Ihr Mädchenname“. Aus dem Französischen von Renate Nentwig. Klett-Cotta-Verlag,Stuttgart 2000, 187 Seiten, 32 DM