Venenknäuel und andere Liebestöter

Anna Katharina Hahn schreibt bitterböse Miniaturen aus dem Alltag in einer beliebigen Großstadt: „Sommerloch“

ie Debütantin hat Glück gehabt. Weder musste sie Agentenklinken putzen noch kiloweise Manuskripte zur Post tragen. Zu ihrem ersten Buch kam Anna Katharina Hahn gewissermaßen wie die Jungfrau zum Kinde: Nachdem sie eine ihrer Geschichten in einer Anthologie Hamburger Autoren veröffentlicht hatte, klingelte das Telefon. Mirko Schädel vom kleinen, aber feinen Verlag Achilla Presse war dran mit der Frage, ob Hahn sich vorstellen könne, gemeinsam mit ihm ein Buch zu machen. Natürlich konnte die Autorin, die bis dahin zwar Dutzende von Kurzgeschichten für die Schublade geschrieben, aber noch kaum etwas veröffentlicht hatte.

Jetzt also ist „Sommerloch“ erschienen, das Debüt von Anna Katharina Hahn. Ein knappes Dutzend eigenwilliger Erzählungen; exakt und lakonisch im Tonfall, stilsicher in den Bildern, spöttisch und mitunter durchaus böswillig im Gestus. Zum Beispiel die Titelgeschichte, die aus der Perspektive genervter Umzugshelfer das Psychogramm einer eben Verlassenen erstellt; scheinbar zumindest, denn am Ende der Geschichte lauert eine abgründige Wendung. Oder aber „Die Vorteile der Mütter“. Da baggert sich einer an eine allein erziehende Mutter ran, weil die so dankbar sind, wenn ein Interessent ihre Problemzonen übersieht und zugleich den Kinderstress in Kauf nimmt. Ein Traum von einem Verehrer ist dieser Erzähler nach außen hin, geht mit Kind und Kegel ins Freibad, den Zoo, den Dinopark. In seinem Innern sieht die Sache aber schon anders aus: „Sie tun alles, was du willst, sind erstaunt, dass einer noch mit ihnen herumschaukeln will, auf alle möglichen Arten, sind so dankbar, dass sie richtig pervers werden, wenn du das Licht anlässt. Es ist natürlich nicht die ganze Wahrheit; mich stören ihre weißlich gestreiften Oberschenkel, die pflaumenblauen Venenknäuel in den Kniekehlen, die zackige Narbe auf dem Bauch, die Brüste mit den Schnullerwarzen. Aber diese kleinen Liebestöter hinzunehmen, zu behaupten, dass du sie gar nicht siehst, bringt schon mehr Entgegenkommen, als du bei jeder nahtlos durchgebräunten Fitnessmieze finden kannst.“

Gemein? Dabei ist diese kleine Fantasie noch vergleichsweise harmlos. Anna Katharina Hahns reichlich skurrile Erzählungen sind spöttische bis bitterböse Miniaturen aus dem Alltag einer beliebigen deutschen Großstadt. Sie erzählen fiese, kleine Geschichten mit doppeltem Boden, die auffallend oft von etwas seltsamen, im Grunde aber stinknormalen sexuellen Fantasien handeln, und das aus der Perspektive von Schuhverkäufern, Hundezüchtern, Langzeitstudenten oder Umzugshelfern, also ganz normalen Menschen wie du und ich.

Spielerisch versetzt sich Anna Katharina Hahn in widerborstige Charaktere; fast alle ihre Short Storys erzählt sie aus der Ich-Perspektive, und das durchaus überzeugend und glaubhaft. Das ist nicht nur ein Beweis ausgezeichneten sprachlichen Könnens, sondern auch ein interessanter erzähltechnischer Griff: Der subjektive Blick erlaubt es der Autorin, aus dem Vollen der eigenen Erfahrung zu schöpfen; relativ unverfälscht und radikal wiederzugeben, was sie erlebt, gehört, beobachtet hat. Die ausgeklügelte fiktionale Substanz, ihre vielseitigen Rollenspiele machen Anna Katharina Hahn zugleich aber über jeden Verdacht erhaben, lediglich autobiografische Tagebuchprosa zu verfassen. Sie macht sich die Kraft der zur Zeit schwer angesagten Gebrauchsprosa zu Nutze, weist auf eine unauffällig-verschmitzte Weise literarisch darüber aber weit hinaus.

In die Schublade der so genannten Popliteraten passt Anna Katharina Hahn also nicht, obwohl das Setting ihrer Storys zum Teil wirklich very stylish ist. Für die resümierende „Germanistenprosa“ hat die Autorin zugleich aber nur derart abfällige Worte im Sinn, dass man sie in einer familienfreundlichen Tageszeitung nicht zitieren kann. Dabei ist die 30-Jährige vom Fach: Im echten Leben arbeitet sie an einer Promotion über spätmittelalterliche Historienbibeln. Aber Anna Katharina Hahn ist in erster Linie Erzählerin. Es gibt kein größeres Verbrechen, sagt sie, als die Leser zu langweilen. Und wenn man ihre Geschichten denn schon positionieren will, dann noch am ehesten in der Nähe der schnörkellosen Storys von Karen Duve.

Ausgerechnet Karen Duve!, möchte man ausrufen, denn die wurde ursprünglich ebenfalls bei Achilla Presse entdeckt. Es ist hier also zum Schluss unbedingt angebracht, das Näschen für Talente des Verlegers Mirko Schädel zu feiern. Von Anna Katharina Hahn, darauf möchte man nach diesem Debüt wetten, ist im Laufe der nächsten Zeit sicher noch einiges mehr zu erwarten.

ULRICH NOLLER

Anna Katharina Hahn: „Sommerloch“. Achilla Presse, Hamburg 2000, 143 Seiten, 32 DM