Im wilden Westen

von ARNO FRANK

„Es ist doch so: An der Ecke steht ein Typ mit einer großen Tüte M&M’s und verteilt sie in die ausgestreckten Hände. Er hat eine Million M&M’s in seiner Tüte, für 150 wartende Hände, aber er gibt nur zehn oder zwölf raus, weil er so geizig ist. Plötzlich platzt die Tüte auf! Er fängt an zu schreien: ,Hey, das könnt ihr nicht machen! Lasst sie liegen! Das sind meine M&M’s!‘ Das sind die großen Plattenfirmen. Es ist jetzt wie im Wilden Westen. Jeder holt sich eine Waffe. Und gleichzeitig versuchen sie, die Gesetze festzulegen. Viel Glück!“

Das griffige Gleichnis stammt vom Rapper Chuck D. und schildert den grimmigen Aktionismus, mit dem große Plattenfirmen, so genannte Majors, gegen Musikdateien im Internet vorgehen. „Tauschbörsen“ wie Napster haben das Netz zu einer globalen, virtuellen Jukebox werden lassen, aus der sich die Nutzer theoretisch nach Herzenslust bedienen können: Im gängigen MP3-Format hinterlegte Musik kann auf die eigene Festplatte geladen, auf CD gebrannt und in industriellem Maßstab vervielfältigt werden.

Weil hier natürlich am Ast gesägt wird, auf dem die Tonträgerindustrie sitzt, überzog der amerikanische Verband RIAA den Provider Napster mit einer millionenschweren Sammelklage, der sich alle Majors anschlossen – bis, zur allgemeinen Überraschung, Bertelsmann aus der Phalanx ausscherte und den weichgeklopften Störenfried kurzerhand aufkaufte. Man wolle das freibeuterische Angebot in ein legales umwandeln, hieß es dazu aus der Gütersloher Konzernzentrale. Nun soll die Technikabteilung von Bertelsmann testhalber „in weniger als einem Tag Arbeit“ einen eigenen, betriebsbereiten Napster-Server programmiert haben.

Warum also einen Sack Flöhe kaufen, wenn’s auch im Alleingang geht? Weil die Bertelsmänner auf die 34 Millionen angemeldeten Napster-Benutzer schielen, die künftig – legal – auch durch das BMG-Angebot surfen sollen. Der Grundpfeiler der fonografischen Wirtschaft ist schließlich jedem Tonträger eingeschrieben. Der Hinweis „All rights of the producer and the owner of the record work reserved. Unauthorised copying, public performance and broadcasting prohibited“ fehlt auf keiner CD.

CDs sind wie Plastiktüten

„Legal“ bedeutet in diesem Fall, dass gezahlt wird, wo zuvor getauscht wurde: „Die Anerkennung von Lizenzrechten ist mit einer Zahlung verbunden“, erläutert Hartmut Spiesecke vom Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft e.V. die juristische Sachlage. CDs sind wie Plastiktüten, in denen die Inhalte abtransportiert werden – und die sind, seit sich der Ton vom Träger gelöst hat, sehr viel leichter zu klauen als im Supermarkt. Als etwa mit dem Siegeszug der Musikkassette ähnliche Ängste geschürt wurden, einigte man sich schließlich auf eine „Leerkassetten- und Geräteabgabe“, um die kalkulierten Kopierverluste wenigstens ansatzweise auszugleichen.

Im Gespräch ist deshalb ein monatliches Abonnement, mit dem die 37 Millionen angemeldeten Napster-Benutzer künftig auch durch das komplette BMG-Angebot surfen können.

Was ihm an Napster so gefällt, hatte Bertelsmann-Chef Thomas Middelhoff schon im Sommer auf der Fachmesse PopKomm verraten: „Wer kann den Musikfans heute ein solches Angebot machen? Wer hält da mit? Wo ist das Musikportal im Internet, das all diesen Ansprüchen gerecht wird?“

Eine rhetorische Frage, die postwendend an die Musikindustrie zurückgegeben werden muss: Vor zwei Jahren starteten die Plattenfirmen in Zusammenarbeit mit der Deutschen Telekom das Portal „Audio On Demand“, wo man sich gewisse Songs herunterladen und per Telefonrechnung bezahlen kann. Und als im fernen Kalifornien Shawn Fenning mit Napster bereits seine erste Million verdient hatte, ging hierzulande die Plattenindustrie noch mit der Aktion „Copy Kills Music“ hausieren. Nach dem Vorbild von „Keine Macht den Drogen“ wurde an „die Kids“ appelliert, doch bitte Musik nicht illegal zu kopieren – als ob’s immer noch um schnöde Tonträger gehen würde, nicht um globalen Zugriff auf jeden beliebigen Musiktitel.

Angeblich ist es BMG – vor allem nach der geplanten Fusion mit dem britischen Mitbewerber EMI – darum zu tun, einerseits die jungen Internetkunden zu binden, andererseits den Diebstahl geistigen Eigentums zu unterbinden. Und zwar mit einer Software namens RPS (Right Protection System), die der Bundesverband Phono in Kürze vorstellen wird. Es sucht, identifiziert und sperrt selbständig URLs, auf denen „ungeschützte“ Musikdateien hinterlegt sind – kein Provider wird mehr behaupten können, er wisse nicht, was da über seine Knoten gehandelt wird.

Vorerst aber bleibt die Hatz auf Hehler ein Rennen zwischen Hase und Igel: Ist ein Anbieter weichgeklagt oder eingekauft, schießen andernorts im Netz ähnliche, weiter entwickelte Angebote aus dem Boden. Ob ein restriktives System wie RPS diesen Zustand wird beenden können, muss sich erst zeigen.

Das Gleichnis des Chuck D.

Und weil es dabei eben nicht um M&M’s geht, sondern um ein höchst emotional besetztes Gut, melden sich auch Musiker selbst zu Wort: Chuck D., der seine Musik selbst übers Internet vertreibt, sieht den Entwicklungen gelassen entgegen: „Digitale Distribution ist heute eine Schattenwirtschaft zum herkömmlichen Vertrieb. Und die großen Plattenfirmen, beherrscht von Anwälten und Buchhaltern, betrachten diese Schattenwirtschaft als parasitäre Industrie. Irgendwie ist sie das auch. Aber ebenso erging es der Eisenbahn-Industrie, als Passagierflugzeuge auftauchten: Sie kämpfte mit Zähnen und Klauen, diese neue Konkurrenz aus dem Geschäft zu drängen.“

Den Einwand, Plattenfirmen würden mit Vorschüssen und Promotion Popmusik erst möglich machen, lässt der Rapper nicht gelten: „Niemand kann behaupten, dass Britney Spears besser wäre als irgendeine beliebige 17-jährige Sängerin da draußen. Sie wird nur besser vermarktet, beworben und finanziert. Das Internet ist nichts anderes als eine neue Form des Radios.“

Ganz anders sieht das Lars Ulrich, Multimillionär und Schlagzeuger. Seine Band Metallica hatte nicht nur Napster, sondern auch Napster-Kunden verklagt und sich damit nicht nur Freunde gemacht. In Chatrooms wurden die Rocker als „geldgeile Spielverderber“ angeprangert, was Ulrich weit von sich weist: „Es geht um die Kontrolle über geistiges Eigentum, es geht um die Zukunft. Das Geld, das wir bis jetzt wegen der Tauschbörsen im Internet verloren haben, war Taschengeld verglichen mit dem, was noch kommt. Die Leute müssen sich darüber klar werden, was ihre Rechte als Internet-Nutzer sind und wie sich das mit dem Recht auf geistiges Eigentum vereinbaren lässt.“

Jonny Greenwood von der britischen Band Radiohead dagegen betont die weltumspannenden, kommunikativen Möglichkeiten des musikalischen Datentauschs. Greenwood und seinen Kollegen schwebt eine globale Online-Community vor, die übers Netz Songs nicht nur tauscht, sondern auch bearbeitet. Hier könnten große Bands und etablierte Künstler, die selbst schon Marke geworden sind, ihre Promotion in Eigenregie betreiben.

Mit der Einladung an andere Majors, sich beim Ausbau von Napster zur globalen Musik-Plattform zu beteiligen, griff Bertelsmann ebendiesen Gedanken auf. Folgen möchten die Konkurrenten keineswegs, ganz im Gegenteil: So hat sich unlängst der Gigant Universal Vorkaufsrechte für MP3 gesichert – das technische Komprimierungsformat.

Die Ärzte sind pfiffig

Einen anderen, pfiffigeren Weg gehen die deutschen Punker Die Ärzte, deren neue CD in haptisch ansprechender Flokati-Verpackung im Laden liegt.

„Natürlich können Sie Blockflötensonaten von Telemann auf Ihre Website stellen“, sagt Hartmut Speisecke vom Bundesverband Phono, „die Frage ist aber nicht nur, wer das hören will, sondern auch, wie er es finden soll. Newcomer leben von Vorschüssen, die ihnen ihre Plattenfirma zahlt. Hätten sie diese nicht, könnten sie genauso gut Bäcker lernen.“

Dass auch hinter Napster Investoren stehen, dass die „Tauschbörse“ nicht aus purer Liebe zur Musik gegründet wurde, liegt auf der Hand. Dennoch steht mit der Attacke der etablierten Musikindustrie auf Provider auch eine Vision vom Internet auf dem Spiel: Dass das Netz doch irgendwie mehr hätte sein können als ein weiterer Vertriebsweg.