Oden an die Lyrik

100.000 Besucher im Jahr eins und bald 1.000 Gedichte zum Hören und Lesen: Es war Lyriklines erster Geburtstag

Eine Website feiert Geburtstag. Die Domain „www.lyrikline.org“ wird eins. Na und? Schließlich gibt es Internetadressen wie Sand in der Sahara. Und doch schien dieser Anlass Grund genug, sich einmal mehr auf die kleine BVG-Odyssee von Kreuzberg nach Pankow einzulassen, wo am vergangenen Freitag in der Berliner Literaturwerkstatt das „lyrikline“-Geburtstagsfest ausgerichtet wurde.

In der gediegen-familiären Atmosphäre der Werkstattvilla trafen sich Veranstalter, Mitarbeiter, Förderer und Freunde des „lyrikline“-Projekts, um eine Zwischenbilanz zu präsentieren, die durchaus Grund zum Feiern bot. Über 100.000 Besucher aus über 50 Ländern klickten sich im vergangenen Jahr durch die „lyrikline“-Seiten, eine Art digitaler Audiobibliothek, in der Gedichte verschiedenster zeitgenössischer Autoren nicht nur als Text, sondern gleichzeitig als Hörerlebnis zugänglich sind. Damit werde, so Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt, die Stimme wieder zur Schrift gebracht. Der Dichter kommt quasi direkt nach Hause und spricht – so zum Beispiel Durs Grünbein, H. M. Enzensberger oder Ingeborg Bachmann.

Dass diese Form der Rezeption von Poesie, ebenso wie öffentliche Lesungen und Literaturfestivals weltweit Konjunktur haben, darüber war man sich bereits zu Beginn der Podiumsdiskussion einig. Man tauschte sich dennoch gern aus über diesen „Trend zur Oralität“, aber auch über den Stellenwert, den Gedichte heute in den unterschiedlichen Kulturen einnehmen. Die kleine Runde internationaler Dichter, verlor sich dabei allerdings häufig in besinnlichen Oden an die Lyrik selbst.

Im Gespräch über die Bedeutung und Chancen von Poesie als Performance zeigte man sich dann eher kritisch und krisenbewusst. Uneinigkeit herrschte jedoch, ob nun das Gedicht, das Wort oder der Autor selbst in der Krise steckte. Aber egal. Das Genre Lyrik sei in jedem Falle prädestiniert für die heutige Zeit, und zwar in allen Kulturen. Man müsse nur die verloren gegangene emotionale Verbindung zum Text wieder herstellen. Aber wie? Eine allgemeingültige Lösung, wie man ein Gedicht denn nun ultimativ „richtig“ genießen könne, hatten allerdings weder die vier Gäste, noch der Moderator, Jan Bürger, Redakteur der Zeitschrift Literaturen, parat. Das wird wohl ewig ein Geheimnis bleiben.

Mit dem Projekt „lyrikline“ scheint zumindest ein neuer Ansatz gefunden, eine nahezu optimale Möglichkeit, das Genre aus dem Nischendasein heraustreten zu lassen und gleichzeitig die virtuelle Zukunft der Lyrik zu sichern. Bis 2001 will man jeweils 1.000 deutsche und fremdsprachige Autoren ins Netz gespeist haben. Derzeit sind rund 400 Gedichte im Text- und Audioformat abrufbar. Und schon bald werden es wieder mehr werden. Am Freitagabend lasen die Gesprächsgäste Mohammed Bennis (Marokko), Jean Portante (Luxemburg) und Ilma Rakusa (Schweiz) dann gleich noch aus ihren Werken und werden damit in einigen Wochen, natürlich mit den entsprechenden Überset -zungen, ebenfalls auf der Website vertreten sein. PAMELA JAHN