Angst vor der Krise

Nach dem 0:4 gegen den FC Schalke 04 verliert Hertha BSC Berlin die Tabellenführung und sucht verzweifelt nach einem Ausweg aus dem überfüllten Verletztenlager. Morgen gegen Inter Mailand

von MARKUS VÖLKER

Igitt. Krise, dieses Wort. Jürgen Röber hasst es, wie jeder Trainer. Am liebsten würde es die gesamte Übungsleitergilde in die Leprakolonie der Unwörter verbannen, raus aus den Kabuffs der Pressekonferenzen, raus aus den Hirnen der Journalisten und Fußballspieler. Ganz weit weg damit ins Land, wo all die anderen Verbannten dahinsiechen: Der Abstieg, der Offenbarungseid und die Insolvenz zum Beispiel. Wer es doch wagt, aussätzige Begriffe in den Mund zu nehmen, läuft Gefahr, sie von einem Angesprochenen aus dem Maul gerissen und um die Ohren geschlagen zu bekommen.

Was also? Hertha in der Krise? Hatte die Mannschaft nicht gerade das erste Heimspiel der Saison mit 0:4 gegen den FC Schalke 04 im Olympiastadion verloren, und war der Tabellenführer nicht auch zuvor in Dortmund böse überfahren worden? „Krise? Wir stehen mit Schalke oben, da kann man doch nichts von Krise erzählen“, sagte Jürgen Röber zornig. „Wir haben schließlich zuletzt hervorragend zu Hause gespielt.“

Diesmal, am 13. Spieltag und vor 49.467 Zuschauern, allerdings nicht. Schalke 04 schoss bereits in der 4. Minute das erste Tor. Herthas Abwehrspieler Kostas Konstantinidis und Jolly Sverisson durften gerade mal kurz am Trikot von Schalkes Stürmern zerren, da war der äußerst robuste Angreifer Ebbe Sand schon allein vor dem Kasten von Gabor Kiraly und traf. 14 Minuten später köpfte er nach einer Ecke von Andreas Möller zum 2:0 ein, vollkommen frei stehend. Es ging weiter bergab mit den Berlinern. Tony Sanneh schied mit einer Verletzung aus und in der 29. Minute erreichte die Demütigung der Hertha ihren Höhepunkt. Die Fans der Schalker begleiteten jeden Ballkontakt ihrer Mannschaft mit einem choralen „Hey“. Es war in der Folge nur eine Frage der Zeit, wann weitere Treffer folgen sollten – Jörg Böhme musste nur mehr Chuzpe vor dem Tor zeigen. Eine Hand voll großer Chancen ließ er aus, bevor er endlich sieben Minuten vor Spielende mit einem Freistoß zum 3:0 einnetzte. „Wir hätten den Sack natürlich früher zumachen müssen, um Kraft zu sparen“, erkannte Böhme. „Ich war eigentlich schon saft- und kraftlos beim Freistoß, ich hab nur versucht, das Ding reinzuhauen.“ Mit 106 km/h schlug der Schuss immerhin ein. Das 4:0 in Minute 87 wurde wiederum Sand gutgeschrieben.

„Wir sind einfach nicht in der Lage, die Leistungsträger zu ersetzen“, sagte Hertha-Kapitän Michael Preetz. Verletzt sind Marko Rehmer, Stefan Beinlich und Sebastian Deisler. Auch Dick van Burik plagt ein Leiden. Und nun kommen noch Alex Alves hinzu, der sich im Oberschenkel einen Muskel zerrte und eben Sanneh. „Wenn wir so viele Spieler ersetzen müssen, kann einem gegen Inter Mailand nur Angst und Bange werden“, blickte Preetz voraus auf morgen, an dem Hertha im Uefa-Cup zu Hause gegen die Italiener antritt.

Auch Röber erforschte die Ursachen der Niederlage im Lager der Verletzten. Ohne sie seien seine Leute „ein bisschen vorgeführt“ worden. „Manche hatten große Probleme, sich in Szene zu setzen und überhaupt nach vorne zu spielen.“ Dennoch: „Klar fehlen die guten Fußballer, aber rennen kann jeder.“ Das Mittelfeld, das die Defizite in Herthas Hintermannschaft zuletzt kompensieren half, versagte diesmal.

Und Schalke verfiel nicht in Depression nach dem Erfolg gegen Bayern München, sondern überrannte die überforderten Berliner im manischen Überschwang. Schalkes Trainer Huub Stevens ließ sich dagegen nicht davon abbringen, den deutlichen Erfolg Nebensächlichkeiten zuzuschreiben. Schalke habe mehr Glück als in der vergangenen Spielzeit, griente er. Und in Stadien, die umgebaut werden, gewinne sein Team heuer (siehe Rostock) fast schon gesetzmäßig mit 4:0.

Hertha ist nun Tabellendritter, direkt hinter Schalke. Die Rolle des Tabellenführers war noch frisch besetzt mit den Berlinern. Vielleicht kam sie zu früh, denn wie sonst ist Röbers Äußerung zu erklären, der nach der ersten Zerknirschung meinte: „Da hat’s uns endlich mal zu Hause erwischt.“ Manager Dieter Hoeneß war sogar bereit, „Lehrgeld“ zu zahlen. An der Tabellenspitze müsse man sich mit der besonders hohen Motivation des Gegners auseinander setzen, das sei ungewohnt, neu. „Wir haben vor Augen geführt bekommen“, sagte er, „dass das ein Weg ist.“ Lang. Beschwerlich. Auf dem aber keine „Tristesse“ nach dem 0:4 herrsche und auf dem man sich hoffentlich nicht ins Land der Krise verirrt. Wegweiser dorthin stehen an jeder Kreuzung.

Hertha BSC: Kiraly - Konstantinidis, Schmidt, Sverrisson - Sanneh (24. Dardai), Veit (57. Roy), Wosz, Hartmann - Tretschok - Alves (46. Daei), Preetz FC Schalke 04: Reck - Hajto, Waldoch, van Kerckhoven - Latal (88. Mikolajczak), Nemec, van Hoogdalem, Böhme - Möller - Asamoah (82. Mulder), Sand Zuschauer: 49.476; Tore: 0:1 Sand (4.), 0:2 Sand (19.), 0:3 Böhme (80.), 0:4 Sand (87.)