Erst die Arbeit, dann der Gipfel

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Vom Schreibtisch aus blickt Herr F. auf neun Leitzordner mit der Aufschrift „Regierungskonferenz“. Auch außerhalb des Büros geht ihm, der mit seinem Botschafter und zwei weiteren Mitarbeitern für eines der kleinen Länder am Verhandlungstisch sitzt, die Arbeit an der EU-Reform selten aus dem Sinn. Einen vollen Arbeitstag wöchentlich hat er seit Beginn der Konferenz Mitte Februar im Brüsseler Ratsgebäude verbracht – Außenminister-Treffen nicht mitgerechnet.

Gerade hat die französische Präsidentschaft das hundertste Positionspapier verteilt. Nach jeder Sitzung des Gremiums, das für die Vorbereitung von EU-Reformen zuständig ist, fassen Mitarbeiter des Vorsitzenden Pierre Vimont den Verhandlungsstand schriftlich zusammen und legen das Ergebnis den Mitgliedsstaaten zur Stellungnahme vor. Gerungen wird um die Frage, welche Politikbereiche künftig im Rat mit Mehrheit entschieden werden können. Hier ist Feinabstimmung unter Fachleuten nötig, während die zukünftige Zahl der Kommissare oder die Stimmengewichtung im Rat ebenso gut auf politischer Ebene in Nizza ausgehandelt werden kann.

Derzeit müssen in zentralen Fragen alle einer Meinung sein. So kann Spanien mit seinem Veto die Neuordnung der Strukturfonds verhindern, Großbritannien eine einheitliche Quellensteuer blockieren, Deutschland sich im Asylrecht quer legen. Die Aufgabe des Vorsitzenden der Regierungskonferenz ist es, die Bereiche herauszufiltern, in denen alle auf ihr Vetorecht verzichten wollen, und Neuformulierungen der entsprechenden Vertragsartikel anzubieten, mit denen alle einverstanden sind.

Fahne, Kreuz, Brille

Die Formulierungen unterscheiden sich von einer Sitzung zur nächsten nur in Nuancen. Wenn Herr F. und seine Kollegen das aktuelle Papier mit einer Fahne (Zustimmung), einem Kreuz (Ablehnung) oder einer Brille (erneute Prüfung) versehen haben, ist es Zeit für die nächste Verhandlungsrunde.

Jeder Konferenztag beginnt mit einer Generaldebatte. Wer etwas zu Serbien, Palästina oder zur amerikanischen Präsidentenwahl sagen will, soll es sich erst einmal von der Seele reden können. „Sonst wird die Fachdiskussion durch andere Themen verwässert“, wie ein leidgeprüfter Teilnehmer eines großen Landes berichtet, der das Ritual zum ersten Mal erlebt. Dann nehmen die einzelnen Delegationen zum neuesten Präsidentschaftspapier Stellung.

Die Delegationsleiter von Griechenland, Spanien, Portugal, Deutschland und Großbritannien, die jede Woche eigens anreisen, können jetzt etwas Schlaf nachholen. In allen schon vor dem Maastrichter Vertrag 1992 strittigen Fragen haben sich die Mitgliedsstaaten seither kaum bewegt. „Hier sitzen zu viele Leute, die schon in Maastricht und Amsterdam dabei waren“, sagt der Unterhändler, der sich das wöchentliche Ritual als europapolitischer Neuling ansieht. „Die haben alle die Erfahrung, dass sich ohnehin erst ganz zum Schluss etwas bewegt. Und deshalb rücken sie auch erst ganz zum Schluss mit Verhandlungsangeboten heraus.“

An den kleinsten Akzentverschiebungen erkennt der Verhandlungsprofi Vimont, wo mögliche Kompromisslinien verlaufen. Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit, das so genannte Beichtstuhl-Verfahren. Ein Vertreter der französischen Ratspräsidentschaft reist aus Paris in die vierzehn übrigen Hauptstädte, um herauszufinden, wo die „Schmerzgrenze“ des jeweiligen Mitgliedslandes liegt. Kurz vor dem entscheidenden Treffen in Nizza macht sich der Staatspräsident selbst auf den Weg, um den Kompromissdruck zu erhöhen und seine Kollegen ins Gebet zu nehmen. Dann erst wird der Reformentwurf geschrieben, über den die Staatschefs an der Côte d’Azur die Nächte hindurch streiten werden.

Bislang sieht es so aus, als sollten die Franzosen besser nicht Beichtvater spielen, sondern sich selber einen suchen. Denn in vielen heiklen Punkten fällt ihnen das schwer, was eigentlich die Aufgabe des vorsitzenden Landes ist: über seinen Schatten zu springen und eigene Machtinteressen zurückzustellen.

So hat die französische Präsidentschaft zum Beispiel vorgeschlagen, Sonderbeauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik wie den Balkankoordinator Bodo Hombach künftig mit Mehrheit zu ernennen. Der französische Vertreter in der Regierungskonferenz aber ist dagegen – eine Schizophrenie, die das Bild vom reformfreudigen Frankreich, das eine starke, handlungsfähige EU anstrebt, schwer beeinträchtigt. Jacques Chirac selber bestärkt die Zauderer im eigenen Land, wenn er betont, dass jede Änderung der EU-Verträge eine Änderung der französischen Verfassung nach sich ziehen müsste. Dem widerspricht der für EU-Reform zuständige – französische – Kommissar Michel Barnier.

Einer blockiert immer

In den wenigen Bereichen, wo sich die Franzosen damit anfreunden könnten, einen Teil ihrer Souveränität auf die europäische Ebene zu verlagern, legen sich andere große Mitgliedsstaaten quer. Bei der Mittelverteilung für die Strukturfonds beharren diejenigen Länder auf ihrem Veto, die mehr aus dem Topf erhalten, als sie einzahlen: allen voran Spanien, aber auch Portugal, Griechenland und Irland. Beim Ausbau des einheitlichen Rechtsraums und gemeinschaftlichen Mindeststandards im Asylrecht bremst der deutsche Innenminister – Kanzleramt und Außenministerium haben bei dem Thema weniger Probleme.

Beim Umweltschutz fürchten die Südländer, von den strengen Nordlichtern auf ihre hohen Standards verpflichtet zu werden, und wehren sich deshalb dagegen, ihr Veto aufzugeben. Bei der Steuerharmonisierung blockieren Briten, Schweden und Dänen. Sie wollen den Mehrwertsteuermindestsatz und die Bemessungsgrundlage weiterhin einstimmig festlegen – da bliebe für Mehrheitsentscheidungen „am Ende nur noch die Farbe der Formulare“, sagt resigniert ein Verhandlungsteilnehmer.

Noch siebzehn Tage bis Nizza. Kein Wunder, dass die Frage nach Aufwand und Ertrag des bisherigen Reformverfahrens immer lauter gestellt wird. Bislang ist die Regierungskonferenz laut Artikel 48 EU-Vertrag das einzige Gremium, das eine Vertragsreform vorbereiten kann. Es mehren sich aber die Stimmen, die ein transparenteres, demokratischeres und wirkungsvolleres Gremium verlangen.

Die Frage ist brandaktuell: Schon heute sind fast alle Regierungen darin einig, dass Nizza hinter den Erwartungen zurückbleiben und daher eine weitere Reformrunde nötig sein wird. Denn die Forderung nach vereinfachten Verträgen, nach überschaubaren europäischen Institutionen, nach klarer Abgrenzung der Aufgabenbereiche von Ländern und EU, nach einer einheitlichen europäischen Verfassung wird auch nach Nizza nicht verstummen.

„Es wird im Vertrag von Nizza keine Klausel geben, die eine neue Regierungskonferenz ermöglichen wird“ – Herr F. sagt es fast beschwörend. Absurd scheint ihm die Vorstellung, weitere dreihundert Stunden seines Lebens mit einer solchen Farce zuzubringen. Von vielen Seiten wird inzwischen ein Verfassungskonvent als das Gremium angesehen, das der Union verloren gegangene Glaubwürdigkeit zurückgeben könnte.

Tatsächlich hat der Grundrechte-Konvent unter Leitung des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog für seine Arbeit viel Lorbeeren eingeheimst. In der Öffentlichkeit aber fand der Inhalt der Charta kaum Beachtung. Die Regierungschefs lobten zwar die Mühen des Gremiums, das aus nationalen und europäischen Parlamentariern, Kommissions- und Regierungsvertretern zusammengesetzt war. Gleichzeitig war ihnen aber ein solches Maß an Demokratie und Transparenz doch suspekt. So wischten sie die Anregung, die Grundrechts-Charta in Nizza zur Europäischen Verfassung zu erklären, rasch vom Tisch. Eine „feierliche Proklamation“ ist nun geplant – viel Zeremoniell, das wenig Inhalt überdecken soll, symptomatisch für das ganze geplante Spektakel an der Côte d’Azur.