bücher für randgruppen
: Über die Reifungsprozesse alter Bücher sowie einen bis heute unterrepräsentierten Sinnesbereich

Berühmte Geruchsfanatiker

Wer ahnt schon, dass der 1822 erschienene Ergänzungsband der „Grimmschen Kinder- und Hausmärchen“ bei Erscheinen der Neuauflage im Jahr 1856 noch nicht verkauft war – übrigens bis 1960! Bücher sind eben nichts zum Essen, obwohl mir kürzlich der Schriftsteller Gudbergur Bergsson ein hübsches isländisches Wortspiel aus den Sechzigerjahren vortrug „orda – borda – borda – orda“, „Wörter – Essen – Essen – Wörter“.

Bücher können manchmal ziemlich lange herumliegen, bis sich ihr Aroma sozusagen entfaltet, sind also eher etwas wie Wein oder – bei nicht ganz so langem Reifungsprozess etwas wie Camembert. In den Antiquariaten kann man gelegentlich solch duftende Schätze bergen. Gerade habe ich W. H. Audens Buch „Letters from Iceland“ (1937) von einem Antiquariat aus Annapolis in den USA bestellt, die Erstausgabe für 30 Dollar plus Porto. Rätselhafterweise ist von diesem wirklich wunderbaren Werk, einer Mischung aus Lyrikband, Reisetage- und Fotobuch nie eine deutsche Ausgabe erschienen.

Auden schildert, wie Görings Bruder mit einer Nazireisegruppe die „Wiege der germanischen Kultur“ besucht, im Hotel Reykjavík am Nebentisch sitzt, freundlich herüberwinkt und im Reisebus von der Reinheit der arisch-blonden Rasse und den Sagas schwärmt. Na gut, meint Auden trocken, er liebe zwar auch die Sagas, aber „was für eine verkommene Gesellschaft beschreiben sie, eine Gesellschaft, in der ausschließlich Gangstertugenden hochgehalten werden“.

Und zum Glück sei der Reisebus gerade an zwei dunkelhaarigen isländischen Kindern vorbeigefahren, leider von den begeisterten Mitreisenden aus Germanien übersehen.

Um also an vergriffene, seltene Bücher heranzukommen, ist das Internet hervorragend geeignet. Unter www.zvab.com besteht die Möglichkeit, unter zwei Millionen Titeln einzigartige Werke zu erstehen, die nie nachgedruckt wurden oder extrem eigenartig sind. Hin und wieder taucht dort und in den Antiquariaten beispielsweise das Werk von Dr. Albert Hagen über die „Sexuelle Osphresiologie“ von 1906 auf. Osphresiologie ist die Wissenschaft vom Geruchssinn, ein bis heute völlig unterrepräsentierter Sinnes- und Forschungsbereich. Interessanterweise ist dieses Buch selbst bereits mit einem speziellen Geruch behaftet. Ab einem bestimmten Alter entwickeln nicht nur manche Menschen oder Käsesorten eigenartige Gerüche, sondern wie gesagt auch Bücher.

Mein Exemplar, erworben im Antiquariat Kalligramm in der Berliner Oranienstraße, riecht recht spröde holzig, ja fast ein wenig säuerlich. Mit diesem Geruch in der Nase ist es besonders aufregend zu lesen, dass „Gerüche die Ursache von geschlechtlichen Perversitäten, insbesondere von Homosexualität bei Tieren“ sein können. Man habe Insekten, so der Autor, beispielsweise in flagranti bei homosexuellem Verkehr überrascht, ohne dass sexuelle Isolierung stattgefunden habe. Es lag also nicht am Separieren der Geschlechter. Wer weiß heute noch, dass ausgerechnet der bei Kindern so beliebte Maikäfer um die Jahrhundertwende der „freiwilligen Päderastie“ bezichtigt wurde?

Das und anderes mehr erfährt der Leser jedenfalls durch dieses dreiundneunzigjährige Buch. Dr. Albert Hagen wusste seinerzeit, dass „die Copulationen von männlichen Maikäfern schon lange in den Annalen der tierischen Criminalität figurieren“. In seiner Statistik allerdings steigt „die Zahl der homosexuellen Copulationen auf 17 von 210 bei frischen und eben sexuell thätig gewesenen Maikäfern“. Selbst das Abschneiden der Flügel habe die sexuelle Erregung der Maikäfer nicht vermindern können.

Im Kapitel „Berühmte Geruchsfanatiker“ schließlich treffen wir auf Emile Zola und Charles Baudelaire, der in seinen „Blumen des Bösen“ die Zeilen nach Moschus und Havanna duften lässt und Schränke öffnet, die Gerüche der Vergangenheit ausströmen: Kleider, Puderschachteln und Spitzen müffeln nach englischem Salz und Pestessig.

Dass Orchideen wie die in Thüringen beheimatete Hummel-Ragwurz mit ihren Blüten nicht nur den Körper, sondern auch den Geruch der weiblichen Hummel imitieren, um von Hummelmännern sozusagen trickreich bestäubt zu werden, ahnte der Autor bereits: „Nur eine halbe Stunde nach der Befruchtung der Orchidee mit Blütenstaub trat der Verlust des Geruches ein.“ Dumme Hummeln, schlaue Blumen.

WOLFGANG MÜLLER

W. H. Auden: „Letters from Iceland“,unter www.abebooks.com von8 Dollar (Taschenbuch, 1990) bis450 Dollar (Erstausgabe 1937,signiert von Auden) zu finden.Albert Hagen: „Die Sexuelle Osphresiologie“, manchmal zu finden unterwww.zvab.com, Preis je nach Zustandund Antiquariat zwischen 40 DM und150 DM