Zeitschleifen sehen dich an

Physikalisch höher, philosophisch tiefer gelegt: Michael Wallner debütiert doppelt mit den Romanen „Manhattan fliegt“ und „Cliehms Begabung“

von WERNER JUNG

Die Presseinformationen kündigen Gewaltiges an: Bei Reclam Leipzig ist bezüglich Michael Wallners Erstlingsroman „Manhattan fliegt“ die Rede davon, dass man mit der Lektüre schier nicht aufhören könne; der Klappentext von Wallners zweitem Roman, zeitgleich bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen, nennt das Buch „erfindungsreich, spannend, den Leser lustvoll herausfordernd: ‚Cliehms Begabung‘ ist ein ebenso komischer wie literarisch hochklassiger Roman, in dem es todernst zugeht.“ Da werden Erwartungen geweckt.

In der Tat, was man dem Grazer Autor Wallner (Jahrgang 1958) in keinster Weise nachsagen kann, das ist ein Mangel an Fantasie, an abgedrehten Einfällen und skurrilen Begebenheiten. Nur, nichts verbraucht sich bekanntlich auch schneller als ebensolche Einfälle, wenn man kein begnadeter Erzähler und Fabulierer ist wie (sagen wir einmal behelfsmäßig an dieser Stelle und weil sich die Kolportage bei der Lektüre von selbst einstellt) Karl May oder Jules Verne. Oder auch – sei’s – Harry Potter. Von denen ließ und lässt sich der jugendliche Leser wie der erwachsen gewordene „Lesefutterknecht“ (Handke) gern in exotische Weiten und Science-Fiction-Welten entführen, um auf Du und Du mit dem Gutmenschen für eine Weile den wirklichen Alltag und die reale Zeit hinter sich lassen zu können.

Was man nun leider von Wallners Romanen nicht sagen kann. Da holpert die Sprache, was der angestrebten Rasanz der Handlung geschuldet ist, und rattern die Dialoge, um über erzählerische Engpässe hinwegzuführen, da suggerieren Brüche und Zäsuren, nein: nicht Montagetechnik, sondern Tiefsinniges.

Überhaupt: Der Autor hat’s mit einem ewigen Menschheitsthema, der Zeit. Darunter tut er’s nicht. „Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, so weiß ich es, will ich es aber dem Fragenden auseinandersetzen, so weiß ich es nicht.“ (Augustinus) Keine Angst: Man konsultiere Wallners Romane. In „Manhattan fliegt“ werden gleich drei verschiedene Zeitebenen in einer mäandernden Erzählung vorgeführt, Ebenen und Geschichten, die ineinander greifen und miteinander verschaltet werden.

Im Jahre 1921 hat die Stummfilmschauspielerin Undine Nielssen eine Affäre mit dem Magier Pius Yurgrave, der selbst besessen an einem Werk über Magie schreibt, in einer Irrenanstalt landet und dort dreißig Jahre später von einer jungen Delfindompteurin, die seine Tochter (sic!) ist, entdeckt wird; 1991 dann trifft der deutsche Schauspieler Leopold in New York, auf der Suche nach der Hauptdarstellerin für einen Film über eben Delfindompteure (sic!), auf eine betörende junge, dabei arg verwirrt scheinende schwedische Schauspielerin: Undine Nielssen. Der Ring schließt sich, die Zeiten und Ereignisse, Personen und Dinge purzeln durcheinander. „Ich glaube an Kräfte“, so äußert sich eine der Protagonisten stellvertretend für den ganzen Roman, „die wenigen gegeben sind, und bin sicher, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt als Zahnpasta, Hautkrebs und Talkshows.“

„Cliehms Begabung“ setzt noch einen drauf; die Zeitproblematik wird physikalisch höher und philosophisch dann tiefer gelegt. Cliehm nämlich, dieser geniale Physiker, der Einsteins Relativitätstheorie überbieten möchte und die Reversibilität der Zeit glaubt beweisen zu können, bewegt sich putzmunter durch Zeiten und Räume, erlebt einmal dasselbe so, dann wieder so, lebt in einer portugiesischen Pension und zugleich im heimischen Deutschland, liebt Tilly, die Opernsängerin, und auch die Rothaarige, eine eigentlich blonde dänische Kellnerin, und wird verfolgt und bedrängt von seinem Kollegen Zinnk, der ihm seine Formel abjagen möchte. Am Ende schließt sich auch hier wieder ein Erzähl- und Zeitkreis, erweist sich die Allmachtsfantasie, Cliehms Begabung, bloß als wirrer Fieber- und Krankenhausalptraum: „Auch meine Haare wachsen im Krankenhaus. Sonst steht alles still. Nichts bewegt sich, außer auf den Wegen in meinem Kopf. Ich kann schneller sein als das Licht oder unendlich langsam. Ich bin weit draußen, wo die Sonne nicht mehr zu sehen ist. Ich bin im Innern des Eises. Ich reise. Es ist meine Begabung. Ich zähle. Wenn ich fertig bin, öffne ich die Augen.“

Ein hübscher Einfall, ist man versucht zu sagen. Sieht man dagegen genauer hin, entpuppen sich die meisten Einfälle als häufig in Filmen bereits gesehene Szenen. Auf Schritt und Tritt fühlt sich der Leser an Hollywoods Science-Fiction- und Fantasy-Produktionen erinnert. Also den Roman wegen seines philosophischen „Gehalts“ lesen? Nun ja, zentnerschwere Fragen prasseln in Worthülsen auf den wohlmeinenden Leser: „Würde die Zeit implodieren? Strömen die Gegenwarten ineinander, wenn sie sich berühren? Oder laufen sie gleichmäßig fort wie zwei Geleise, die zu unterschiedlichen Zielen führen, sich aber irgendwo auf der Strecke begegnen? Eine Weiche in der Zeit?“ Wohin soll er nur flüchten, dieser wohlmeinende Leser, nachdem ihm nicht bloß Hören und Sehen, sondern schier alle Sinne geschwunden sind? „Lauf! Ruft der Schmerz und beißt zu. Er geißelt Cliehm in die schmale Gasse hinein.“ Wo mögen uns dagegen erst unsere Lektüreschmerzen noch hingeißeln?

Michael Wallner: „Manhattan fliegt“. Reclam Leipzig, Leipzig 2000, 320 Seiten, 16,90 DMMichael Wallner: „Cliehms Begabung“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2000, 319 Seiten, 39,80 DM