Der Missionar

aus Hannover HEIKE HAARHOFF

„Wir sind alle Sünder“, spricht der Herr, der in drei Wochen Justizminister von Niedersachsen sein wird, gelegentlich vor Studentengemeinden, und der Herr spricht wahr. Denn, das hat seine empirische Forschung ergeben: Wir alle verstoßen gegen die Gesetze, die unser Zusammenleben regeln, die einen mehr, die anderen weniger. Als Laienprediger mahnt Christian Pfeiffer sodann zu Vergebung und Aussöhnung. „Es ist gut, wenn wir darauf hinwirken, dass die Sünder die Chance der Gnade erhalten.“

Nur der Herr selbst ist nicht gnädig gestimmt, im Moment jedenfalls nicht, aber im Moment steht er auch nicht ehrenamtlich und als „überzeugter Christ“ (Pfeiffer über Pfeiffer) auf der Kanzel. Im Moment sitzt Christian Pfeiffer in seinem Direktorenbüro im Kriminologischen Institut Niedersachsen, nimmt unwirsch die Brille ab, so als behindere die seinen Durchblick, zieht die Augenbrauen zu warnenden Dreiecken zusammen. Es geht um Weltliches. Politisches.

Kaum hatte Ministerpräsident Sigmar Gabriel (SPD) Anfang voriger Woche in Hannover seine Kabinettsumbildung bekannt gegeben und den renommierten Kriminologen Christian Pfeiffer zum künftigen Justizminister berufen, da wurden heimlich die ersten Wetten abgeschlossen in der sozialdemokratischen Regierungsfraktion. Sechs Monate geben sie ihm. Bestenfalls ein Jahr. Aber dann wird er stolpern. Einen Fehler machen. Anecken mit seiner missionarischen Besserwisserei, seinen Alleingängen, seiner provozierenden Art. Einsehen müssen, dass Glänzen nicht alles ist in der Politik. Sondern dass viel Kärrnerarbeit und Parteidisziplin dazu gehören. Eigenschaften, für die der Wissenschaftler Christian Pfeiffer bislang nicht bekannt war.

Erklärt die Welt in drei Sätzen

Sein Institut, seine „Wissenschaftsfabrik“, sagen die Neider, rackert, was das Zeug hält: Studie zu Jugendkriminalität, Expertise zu Gewalt in der Ehe, Aufsatz zu Kronzeugenregelung. Und Pfeiffer? Pickt sich die Rosinen raus, erklärt die Welt, notfalls in 1'30'' fürs Fernsehen oder in drei knackigen Sätzen für die Boulevardblätter, dennoch stets kompetent, stets den richtigen Ton treffend. 14 DIN-A-4-Seiten umfasst die Auflistung seiner Monographien, Artikel, Forschungsberichte. „Ich bin ein Aufklärer“, sagt er von sich.

Nebenbei zieht er durchs Land, spricht auf Parteitagen der Grünen, schreibt Reden für CDU-Politiker, berät in Justizfragen die SPD, der er 1969 beitrat „wegen der Ostpolitik Willy Brandts“, um anschließend den Strafvollzug der bayerischen CSU über den grünen Klee zu loben. So was stößt sozialdemokratischen Hinterbänklern auf. So was muss schnellstmöglich wieder weg, jedenfalls als Minister. So was stimmt missgünstig: Der Gabriel, heißt es in Hannover, hole sich den Pfeiffer doch bloß ins Kabinett, um selbst öfter mal bundesweit zitiert zu werden.

Es wurmt Christian Pfeiffer, „dass hier also kolportiert wird, ich sei ein mediengeiler Egomane“. Er klingt fast beleidigt. Darf man jemandem sein Genie zum Vorwurf machen? Sicher, er hat mehr als 100 Fernsehauftritte pro Jahr. „Dabei sage ich nicht einmal, dass die Zahl der Anfragen doppelt so hoch ist.“ Dabei sagt er nicht einmal, dass diese Republik ohne ihn verdammt arm dran wäre. Diesen Schluss muss man schon selbst ziehen. Christian Pfeiffer hilft einem höchstens mit ein paar Stichwörtern auf die Sprünge. Die Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts etwa, die 2001 in Kraft treten soll. „Ich denke, das geht auf unsere Forschung zurück.“ Die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe. „Es ist erfreulich, dass sich unsere parlamentarische Beratung als Sachverständige in diesem Gesetz widerspiegelt.“ Die Jugendkriminalität, deren Ausmaß heute bedrohlicher sein könnte, wäre da nicht in den 80er-Jahren sein Münchner Modellprojekt mit jungen Straftätern gewesen. „500 Nachfolgeprojekte gibt es davon heute.“ Und schließlich die Bürgerstiftung Hannover, ein karitatives Netzwerk, gegründet von Christian Pfeiffer in einer Zeit, da andere ihr Engagement im Kampf gegen rechte Gewalt auf Rufe nach Zivilgesellschaft und Bürgerkultur beschränken. „Die Stiftung ist die erste ihrer Art in Deutschland.“ Selbstredend.

Fragt sich bloß, warum einer, dessen politischer Einfluss und wissenschaftliches Verdienst schon jetzt unbestritten sind, seine Unabhängigkeit aufgibt – für den Job des Landesjustizministers. Die Antwort kommt prompt. „Ich will das ja nicht ewig machen.“ Die Rückkehr an sein Institut muss möglich bleiben, etwa in zweieinhalb Jahren, nach der nächsten Landtagswahl. Derweil gilt: „Wir sollten viel mehr Wechsel haben zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik.“ Denn: „Wer 30 Jahre nur Berufspolitiker war, dessen Wahrnehmung von Wirklichkeit ist eingeschränkt.“ Gilt das umgekehrt auch für seinen Blick als Wissenschaftler auf die Machbarkeit von Politik? Sein Staunen über einen solch abwegigen Gedanken ist ehrlich. „Also, ich bin schon eine Ausnahme in der wissenschaftlichen Landschaft.“

Der Töpchentheoretiker – ein Ossi?

Wer die Person hinter diesem ausnahmslosen Selbstbewusstsein erkunden will, der bekommt den sechsseitigen „Lebensbericht des Prof. Dr. Christian Pfeiffer“ ausgehändigt, gehalten unlängst vor seinem Rotary-Club. „Lesen Sie, dann können Sie gezielter fragen.“ Also liest man: „Am Anfang jedes Lebensberichtes steht die Geburt. Meine vollzog sich am Sonntag, den 20. 2. 1944, in Frankfurt (Oder).“ Christian Pfeiffer – ein Ossi? Der Mann, der mit seiner „Töpfchentheorie“ noch vor einem Jahr den Hass der Ostdeutschen auf sich zog, weil er den Drill der DDR-Erziehung in den Kinderkrippen und -gärten für die Fremdenfeindlichkeit ostdeutscher Jugendlicher verantwortlich machte? Ja und nein.

Als Christian Pfeiffer neun ist, flieht die sechsköpfige Familie „wegen wachsender Konflikte mit den Kommunisten“ zu einem „Einödhof im Landkreis Altötting in Oberbayern“, den der Vater, selbst Landwirt, als Pächter übernimmt. „Ich war der Türke in Bayern“, sagt Christian Pfeiffer. Vielleicht ist es die jungenhafte Stimme, die den Mann, graues Haar, senffarben kariertes Jackett, hagere Gestalt, plötzlich vor knapp 50 Jahre erscheinen und seine damaligen Nöte nachempfinden lässt: Wie er, weil er kein Bayerisch sprach, von den Klassenkameraden verprügelt wurde. Wie sie ihn mieden, weil er evangelisch und seine Familie arm war. Wie er zu einem Schläger oder Vergewaltiger hätte werden können, einer von denen aus seinen Studien, die die Gewalt weitergeben, die sie als Kind erfahren haben.

Auslandsaufenthalt für jeden

Dass es anders kam, führt er auf sein „liebevolles Elternhaus“ zurück. Statt Schlägen gab es dort ein oberstes Gebot: Bildung. Christian Pfeiffer studiert in Großbritannien. Eine Erfahrung, „die mir heute die wichtigste Forderung für Ostdeutschland erscheint“. Auf dass die dortigen Jugendlichen zu sich selbst finden, Fremdes als Bereicherung begreifen und so von ihrer erziehungssystembedingten Xenophobie geheilt werden. Denn abgewichen von seiner These ist Christian Pfeiffer trotz massiver Kritik und Morddrohungen nicht. Nur so viel: „Ich war damals zu provokativ. Ich hätte meine Analyse mit einem konstruktiven Vorschlag verknüpfen müssen.“ Dem des Auslandsaufenthalts.

„10.000 Stipendien pro Jahr reichen“, hat er durchgerechnet, „dann haben wir in zehn Jahren 100.000 Rückkehrer“, er ist wie berauscht von seinem Kalkül, „das ist eine Turboerfahrung an Weltoffenheit“, er ruft, „wir müssen die jungen Menschen fliegen lassen!“

Und wenn er doch irrt? Wenn sich die Zivilgesellschaft, die er als Justizminister weniger durch Parteienverbote stärken will denn durch Prävention, durch Verzeihen statt Strafen, durch Abbau autoritärer Strukturen, durch besseres Qualitätsmanagement im Strafvollzug, wenn sich diese Zivilgesellschaft als unerreichbar erweist? Christian Pfeiffer ist keiner, der gern Zweifel eingesteht, geschweige denn Fehler.

Jahrelang untermauerte er die These der deutschen Linken im Streit um die Ausländerkriminalität mit wissenschaftlich erhobenen Daten: Ausländer seien nicht krimineller als Deutsche, erklärte er, sofern man nur Täter gleichen Geschlechts und gleichen Alters und in gleicher sozialer Lage vergleiche. Inzwischen sieht er die Dinge anders. Von „importierter Machokultur“, die „wesentlich“ zur höheren Gewaltkriminalität der männlichen ausländischen Jugendlichen beitrage, ist jetzt die Rede und davon, dass Männer, die „aus Einwandererfamilien mit traditionellem Männerbild“ stammen, eben eine „Krise der Männlichkeit“ durchleben. Eine Wende um 180 Grad freilich sei das nicht, betont Christian Pfeiffer, bloß „eine der wichtigsten und schwierigsten Botschaften des letzten Jahres“.

Als Wissenschaftler seines Kalibers konnte er sich dieses Fehlurteil leisten. Als Politiker hätte es ihn womöglich zu Fall gebracht. Er weiß gut, wie schnell so etwas gehen kann.

Es war im September 1997, und der Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) kämpfte um seine Wiederwahl. Sein Thema: die innere Sicherheit. Da tauchte ein Gutachten auf, eine Teilstudie nur, aber immerhin. Ihre fatale Aussage: Die Jugendkriminalität habe in den 90er-Jahren, also unter Voscheraus Regentschaft, stark zugenommen. Doch von der Hamburger Staatsanwaltschaft würden immer mehr Verfahren eingestellt, bewährte Maßnahmen des Jugendstrafrechts wie etwa Täter-Opfer-Ausgleich immer weniger angeordnet, statt dessen jüngere Täter in Untersuchungshaft genommen, so als sei das erzieherische Maßnahme genug. Verfasser der Studie: Christian Pfeiffer.

Er beantwortet die Frage, noch bevor sie gestellt ist. „Ja, deswegen hat Voscherau die Wahl nicht gewonnen.“ Aber weswegen ihm dieses Beispiel Anlass zum Nachdenken sein könnte, ist ihm nicht ersichtlich.

Die Männer in der Krise, das sind die anderen.