Unausweichlich begeistert

Exponentielle Steigerungen geistreich in Versform übertragen: Die Wort-Liaisons der dänischen Lyrikerin Inger Christensen  ■ Von Liv Heidbüchel

„Mathematik ist etwas ganz anderes als die Gedanken, die man hat, wenn man beispielsweise he-rumläuft und sein Haus putzt.“ Das ist richtig. Doch hört man deshalb ja nicht gleich mit dem Putzen auf. Auch bringt diese Erkenntnis keineswegs eine explitzite Hinwendung zur Mathematik mit sich. Dafür muss man schon Inger Christensen heißen.

Die dänische Lyrikerin nämlich zieht in ihrer Dichtung erheblichen Nutzen aus der geistreichen Liaison von Wörtern und Zahlenreihen. Davon legen besonders ihre großangelegten, zyklischen Gedichte wie Es und alphabet Zeugnis ab, die Christensen auch im deutschsprachigen Raum zu enormem Ruhm verhalfen. Nicht verwunderlich also, dass die Grandezza der dänischen Lyrik zur zweiten Hälfte des Festivals danmark til hamborg geladen ist.

Alle, die schon einmal in den Genuss gekommen sind, einem chris-tensenschen Vortrag beizuwohnen, sollten sich jedoch diesmal nicht auf Gedichte einstellen. Schließlich veröffentlichte der Gyldendal-Verlag dieses Jahr eine Essaysammlung, wenngleich nicht mit brandaktuellen Einlassungen. In dem Band finden sich Auftragsarbeiten aus den Jahren 1989 bis 1994, die Christensen als Vorträge oder für Zeitungen und Antholo-gien verfasste. Schon im Frühjahr klappte der Hanser Verlag nach: In seiner gefälligen Akzente-Reihe erschien die deutsche Version Der Geheimniszustand, übersetzt von Hanns Grössel.

Gleichnamiger titelspendender Essay verweist auf eine Geistesverwandtschaft mit Friedrich von Hardenberg alias Novalis, erschien dem doch schon vor 200 Jahren „das Äußere“ als ein „in Geheimniszustand erhobnes Innre“: eine Art göttlicher dichterischer Zustand, bei dem sich das Schreiben mit derselben begeisterten Unausweichlichkeit einstellt, „mit der eine Pflanze Blätter und Blüten treibt“, wie Christensen anfügt. Den Essays vorangestellt ist allerdings Das Gedicht vom Tod, das den kompletten Schreibstopp trotz Brennen unter den Nägeln thematisiert. Um dem Horror der weißen, erwartungsvoll stierenden Seiten zu entgehen und nicht „diesem Nichts gegenüberzusitzen“, benutzt Christensen also Systeme – gerne mathematische. Bei der Konzeption ihres Gedichts alphabet etwa sammelte sie zuerst einmal Eigenwörter von A bis N. Auf dem Weg stolperte sie über Fibonacci und seine Zahlenreihe. Bei ihr geht jede Zahl aus der Summe der zwei vorhergehenden Ziffern hervor, beginnt also mit 1, 1, 3, 5, 8, 13 und so weiter.

Diese exponentielle Steigung in Versfassung zu übertragen, erwies sich als ein Projekt, das bis zum Buchstaben Z gut und gerne ein Leben lang gedauert hätte. Glücklicherweise ließ Christensen das fulminante Poem bei N so rechtzeitig enden, dass nicht zuletzt die Essays über Motive und Vorgehensweisen bei den lyrischen Projekten geschrieben werden konnten.

Beim Goutieren der nun vorliegenden Sammlung konnte der aufmerksamen Leserin dann auch nicht entgehen, dass die irritierende Mehrfachnennung der Fibonacci-Folge als probates Mittel gegen eine „schlampige Form von Wörterbuch“ tatsächlich in Essay 3, 8 und 13 erfolgt! Fehlt nur Nummer 5. Gerade in jenem Aufsatz kommt jedoch ein anderer mathematisch orientierter Kniff zur Sprache, dessen Christensen sich in Es bediente: „Die Theorie der Präpositonen“ des Linguisten Viggo Bröndal. Der Spaß am Hantieren mit Modellen und Systemen, wie ihn die Lyrikerin in einem Interview unumwunden zugibt, ist augenscheinlich übergesprungen. Zufall kann man das wohl nicht nennen. Dabei mischt sich Zufall eigentlich als nicht zu kontrollierende Komponente zum „Schutz vor unserer eigenen Überproduktion von Ordnung“ ins Dichten wie ins Leben. Wer weitere kluge Gedanken der Inger Christensen bewusst dem Putzen vorzieht, bewege sich also ins Literaturhaus.

Dienstag, 28. November, 20 Uhr, Literaturhaus