BUNDESREGIERUNG WILL VOLKSGESUNDHEIT ERFORSCHEN
: Die selbst verantwortete Gesundheit

Sparzwänge im Gesundheitswesen? Nie gehört. Während Krankenhäuser geschlossen werden, präsentiert die Bundesregierung ein Programm zur Gesundheitsforschung. Aus den UMTS-Erlösen sollen in den nächsten fünf Jahren 1,6 Milliarden Mark dafür investiert werden. Die Ankündigung dürfte auf Wohlwollen stoßen: Das Wahlvolk glaubt gern der Heilsversprechung, dass bislang nicht kurierbare Erkrankungen wie Krebs oder Aids zu „besiegen“ seien. Gleichzeitig vollzieht das neue Programm politisch nach, was die Medizinentwicklung ohnehin bestimmt: nicht mehr so sehr auf die Krankheitsbehandlung und Symptomlinderung zu setzen, sondern eher präventiv die Krankheitsursachen zu beseitigen.

Eine Schlüsselstellung hat hier die „Genetifizierung“ der Medizin – also die Suche nach möglichen Erbanlagen für die großen Volks- und Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf-Störungen, Asthma und Allergien. Personen, die genetisch bedingt ein erhöhtes Krankheitsrisiko in sich tragen, sollen per Gendiagnose herausgefiltert werden. Diese proklamierte Ursachenbekämpfung bedeutet aber nicht, dass es am Ende weniger Kranke gibt. Im Gegenteil. Dem Medizinbetrieb eröffnet sich ein neues Betätigungsfeld: Menschen ohne Beschwerden und Krankheitssymptome werden trotzdem behandlungsbedürftig, weil bei ihnen ein künftiger Krankheitsausbruch wahrscheinlich, aber keinesfalls sicher ist.

Die individuellen und sozialen Folgen dieses Wandels sind im Regierungskonzept nicht vorgesehen – schon gar nicht als Forschungsgegenstand, der finanziell gefördert werden müsste. Schade. Denn was bedeutet es für eine Grundschülerin zu wissen, dass sie mit 40 Jahren ein um die Hälfte höheres Brustkrebsrisiko hat? Welches Quantum an Eigenverantwortung wird künftig von jenen erwartet, die zu den genetischen Risikogruppen für Schizophrenie oder Depressionen gehören? Und was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn Knappheit und Überfluss, wirtschaftlich motivierter Behandlungsverzicht und ausufernde Luxusmedizin so nebeneinander bestehen? HARRY KUNZ