Gefangene der Angst

Auch nach den Wahlen bestimmen wieder die Nationalisten in Bosnien die Politik. Sie werden weder die bittere Armut bekämpfen noch den Weg nach Europa ebnen

Die Menschen haben Angst vor Veränderungen – und diese Angst wird von den Nationalisten gern geschürt

Der letzte Zug nach Europa hat Bosnien durchquert. Eigentlich hätte der Lockführer anhalten und Reisende aufnehmen sollen. Aber als er aus dem Fenster sah, was in diesem merkwürdigem Land zwischen den Bergen des Balkan vorging, rief er: „Lasst uns weiterfahren“, und ließ Bosnien und die Bosnier so schnell er konnte hinter sich.

Die dritten freien, international überwachten Wahlen seit Kriegsende haben gezeigt: Bosnien-Herzegowina bleibt ein „schwarzes Loch“. Diejenigen Bosnier, die wollen, das ihr Land wirklich ein Teil Europas wird, bleiben Gefangene der Nationalisten. Der Optimismus, den die Menschen seit Ende der qualvollen Krieges 1995 entwickelt hatten, schwindet – bei Einheimischen wie bei den Internationals. Viele in den internationalen Organisationen sind über den erneuten Erfolg der Nationalisten enttäuscht. Seit 1996 versuchen die Vereinten Nationen, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE und andere internationale Organisationen, den Bosniern beim Aufbau eines demokratischen Staates zu helfen. „Nehmen Sie Ihr Glück in die eigenen Hände und wählen Sie Veränderungen“ – mit dieser Parole hatte die internationale Gemeinschaft die bosnischen Wähler im Vorfeld über Monate hinweg aufgefordert, bei den Wahlen am 11. November ihre Stimmen den gemäßigten, nichtnationalistischen Parteien zu geben.

Doch laut den offiziellen Wahlergebnissen liegt die Serbische Demokratische Partei SDS in den mehrheitlich von Serben bewohnten Gebieten des Landes eindeutig vorne – die Partei des ehemaligen Serbenführers Radovan Karadžić, der wegen Kriegsverbrechen angeklagt ist. Die bosnischen Kroaten haben ihre Stimmen überwiegend dem bosnischen Zweig der Kroatischen Demokratischen Union HDZ gegeben – einer Organisation, die nach wie vor Bosnien teilen und die großkroatischen Ideen des verstorbenen kroatischen Präsidenten Dr. Franjo Tudjman umsetzen will.

Die gemäßigten, multiethnischen Parteien konnten nur dort zulegen, wo die Muslime oder „Bosniaken“ die Mehrheit stellen. Die seit 1991 herrschende national-bosniakische Partei der Demokratischen Aktion SDA des bosnischen Expräsidenten Alija Izetbegović bekam weit weniger Stimmen als bisher.

Aber was bedeuten schon die Wahlsiege der gemäßigten Parteien in Tuzla und Sarajevo, den zwei größten Städten, wenn die Nationalisten in allen anderen Teilen Bosniens nach wie alles tun, um jegliche Entwicklung zu blockieren? Für eine echte, qualitative Veränderung bedarf es nicht eines Machtwechsels in einem Teil Bosniens, sondern im ganzen Land.

Die Internationals haben es allerdings bisher verpasst, sich zu fragen, wie viel sie selbst zum erneuten nationalistischen Wahlsieg beigetragen haben. Dieses Mal haben sie durch ihre offene Bevorzugung der gemäßigten Parteien auf einen und das Ausschließen der „ungehorsamen“ nationalistischen Politiker auf der anderen Seite nicht etwa die Demokraten gegen die Nationalisten unterstützt. Im Gegenteil: Die Maßnahmen haben bei den Wählern Trotz erzeugt. Sie wählten diejenigen Parteien, die sich als größte Feinde der internationalen Gemeinschaft aufführten.

Die Logik des „Hirten“ und seiner „Herde“ gilt wohl nirgendwo in der Welt mehr als in Bosnien. Die Nationalisten sind der Hirte, die Herde ist ihr jeweiliges Volk. Diese Logik prägten jedoch nicht nur Politiker, sondern auch die jeweiligen Kleriker, die vor den Wahlen wie immer ihren „lieben“ Mit-Muslimen, Mit-Katholiken und Mit-Orthodoxen mit der Strafe Gottes drohten, falls diese nicht ihre Hirten unterstützen sollten. Das Ergebnis ist ein weiterer auf irrationalen Ängsten gebauter Sieg der Nationalparteien.

Was die internationale Gemeinschaft immer wieder vergisst: Im Schatten der Politik ist das ganz normale Leben der meisten Bewohner Bosniens längst zu einem gnadenlosen Existenzkampf geworden ist. Bosnien hat mit über dreißig Prozent die höchste Arbeitslosenquote in Europa. Zwischen 400.000 und 500.000 Menschen sind offiziell auf Arbeitssuche, und viele melden sich schon gar nicht mehr beim Arbeitsamt.

Diejenigen, die das Glück haben, Arbeit zu haben, verdienen monatlich im Durchschnitt 285 Mark im serbischen Teil des Landes, der Republika Srpska, oder 390 Mark im anderen, der muslimisch-kroatischen Föderation. Für Lebensmittel bräuchten die Bosnier aber im Schnitt 400 bis 500 Mark im Monat. Am schlimmsten sind die Pensionäre von der wachsenden Armut betroffen. Ihre Renten werden seit dem Krieg immer seltener ausgezahlt. Viele Rentner müssen mit 100 Mark einen Monat lang überleben – das sind diejenigen, die man immer öfter beim Sammeln von Müll auf den Straßen von Sarajevo, Mostar oder Banja Luka sehen kann. In den letzten Jahren gibt es immer mehr Hungertote – eine unerträgliche Situation.

Da kann nicht verwundern, dass nach Untersuchungen des „Unabhängigen Büros für Humanitäre Fragen“ 65 Prozent aller jungen Bosnier das Land verlassen möchten. Ein Freund von mir ist Maschinenbauingenieur und zu 100 Prozent Kriegsinvalide. Als er neulich mal wieder „auf den Staat und den Krieg, in dem ich meine Beine verloren habe“, schimpfte, fügte er hinzu: „Lieber würde ich im Ausland als Schuhputzer arbeiten, als hier auf die Gnade derjenigen zu warten, die den Krieg im Keller verbracht haben und jetzt das Land führen.“ Denn gut leben im heutigen Bosnien nur Kriegs- und Nachkriegsprofiteure.

Die sozialen Probleme sind den meisten Bosniern bewusst: Umfragen zeigten, dass in der Zeit vor den Wahlen viele Menschen angegeben hatten, höhere Löhne und sichere Arbeitsplätze sein viel wichtiger als die nationale Frage. Heißt dass, dass die Leute hier gegen ihre eigenen Interessen handeln? Tatsächlich haben die Menschen hier immer noch Angst vor den Veränderungen – auch wenn es positive wären. Und diese Angst wird ordentlich geschürt.

Da die „Internationals“ die gemäßigten Parteien unterstützten, wählten die Bosnier aus Trotz national

In der Nacht vor der Abstimmung wurden auf dem Jüdischen Friedhof von Sarajevo insgesamt 24 Grabsteine umgestürzt und beschädigt. Nach Angaben der Polizei waren die Täter „Jugendliche“, die aus „Langeweile“ gehandelt hätten. Kurz zuvor hatten die Zeitungen gemeldet, dass ein junger Mann bei einem Besuch in Srebrenica (im serbischen Teil) Bosniens verprügelt worden sei, als er das Haus seiner aus dieser muslimischen Stadt stammenden Familie besichtigen wollte. Einige Tage zuvor schon war derselbe junge Mann in Tuzla verprügelt worden, weil er aus einer serbisch-kroatischen „Mischehe“ stammt und sich nicht dazu bekennen wollte, „Četnik“ oder „Ustaša“ zu sein.

Als ich ein Kind war, haben mir meine Eltern erzählt, zu Titos Zeiten sei jeder, der nationalistische Sprüche machte, schwer bestraft worden. Wenn ich heute sehe, wie groß der Einfluss der Eltern auf das Denken ihrer Kinder ist, verstehe ich warum.

AMIR ZUKIĆ

(aus dem Bosnischen RR)