Flüchtige Koboldminuten

■ Computer-Weihnachtsmärchen in den Kammerspielen

„Geschenke, Geschenke, Geschenke“: Darauf ist Leos ganzes Sinnen und Trachten ausgerichtet. Und da er Heiligabend Geburtstag hat, erwartet er Besonderes. Aber bitte keine Pokemons und kein Computerspiel – es sei denn, dieses neue, das sein Vater gerade programmiert. Doch das hat's in sich. Es schluckt Leo, seinen Bruder Victor, seine Freundin Elfi und seinen Vater. Beim Versuch, letzteren aus den Fängen eines Virus zu befreien, hilft Level für Level die zauberkräftige Spielorganisatorin Wagga. Aber auch, wenn nicht alle angekündigten 99 Levels auftauchen, entfaltet sich ein ziemlich irres Figurengequirle – in den Kammerspielen zu Recht als Computermärchen angekündigt.

Das Ganze ist ein Riesenspaß. Von der ersten Sekunde an drücken besonders Alexander Geringas und Marc Letzig als ungleiches Brüderpaar und zugleich Autoren des Stücks mächtig auf die Tempotube. Die Bühne mit ihren Gardinen-Screens und Spielgerüsten erinnert trefflich an so manch eckige Spiellandschaft. Die fantastischen Kostüme geben den optischen Märchenschliff. Und die Songs zu Live-Orgel und Band vom Band aus der Feder der Autoren und von Tom Hellmers (in Mehrfachrollen auf der Bühne) sind mitreißend. Da machts nichts, dass Opernsängerin Ulrike Bartusch (Wagga/Mutter) die anderen gesanglich schon mal abhängt.

Gründelt man zwischen sprechenden Pilzen, Scheißeballen schmeißenden Monstern, dahinschwindenden Koboldminuten auf dem labyrinthischen Weg zum Schloss, fechtenden Edelleuten und lebensfeindlichen Wüsten nach sowas wie einer spaßjenseitigen Botschaft, so findet sich allerlei im Potpourri. Zunächst: Mädchen sind stärker, weil sie sich anderer Kräfte als der körperlichen besinnen. So besiegt Elfie (Patricia Tiedke) das heimtückische Virus nicht durch Keule, sondern programmiertechnisch. Und wo Mädchen der Zutritt verwehrt ist, tarnt sie sich – höchst originell – als Musketier. Auch Mutter/Wagga behält letztlich die Oberhand, während dem still und weise blickenden Vater (Regisseur Thomas Kretzschmar) die Fäden eher entgleiten.

Im Kern des Märchens spielt sich nichts anderes als ein Bruderkonflikt ab. Der ältere Victor ist eifersüchtig auf den kleinen Leo und bemächtigt sich als Virus des Vaters und der Mutter/Wagga. Er krönt sich zum König und wird aus der Ohnmacht des Minderbeachteten heraus gewalttätig. Doch seine Allmachtsfantasie stürzt mit dem Computer ab. Geschockt vom Geschehenen, überlässt er die Fantasiekrone seinem Bruder. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann vertragen sie sich noch heute.

Oliver Törner

Nächste Vorstellungen: 24. bis 26. November, jeweils 15 Uhr, weitere bis zum 20. Dezember in den Kammerspielen