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Bericht einer Hamburgerin: Eichengreens „Rumkowski, der Judenälteste von Lodz“  ■ Von Elke Spanner

Rumkowski ist ein Despot. Ein Mensch, der Angst verbreitet und dennoch Freundlichkeit empfängt, weil man ihm aus Ehrfurcht das Gefühl vermittelt, geliebt zu werden. Wie ein König lässt er sich in den Fabriken mit Applaus begrüßen, und hat er mal wieder Lust auf ein Kind, greift er sich eines und schließt sich mit ihm in ein Zimmer ein. Alle wissen das, aber was tun? Sie würden ja doch den Kürzeren ziehen.

Soweit die Geschichte, die man in jedem diktatorischen und patriarchalen Gefüge der Welt verorten könnte. Der Schauplatz aber ist es, der Unbehagen verursacht bei dem Versuch, ein schnelles Urteil zu fällen. Die Geschichte ereignete sich zwischen 1941 und 1944 im Ghetto Lodz. Rumkowski war dort der Judenälteste. Es ist die Lebensgeschichte der Hamburger Jüdin Lucille Eichengreen, die jüngst in der Europäischen Verlagsanstalt erschienen ist.

1941 wurde die 16jährige Eichengreen, die damals noch den Namen Cecilie Landau trug, in das Ghetto deportiert. Aus ihrer Familie ist sie die einzige Überlebende. Von Lodz aus wurde sie nach Auschwitz gebracht, anschließend nach Neuengamme und Bergen-Belsen. Nach dem Ende der Naziherrschaft gelangte sie 1945 nach Paris, von dort aus 1946 in die USA.

Dass Chaim Rumkowski seine Macht zum sexuellen Missbrauch nutzte, erleichtert das Urteil über diesen Mann. Den ohnehin leidenden Gettobewohnern fügte er weitere Qualen hinzu. Sie waren selbst den eigenen Leuten wehrlos ausgeliefert: „Bist Du dankbar für das, was ich für dich getan habe?“ fragt Rumkowski Eichengreen, nachdem er ihr eine bessere Arbeit zugeteilt hatte. Sie muss nicken, sie hat keine Wahl, und dann muss sie ihm ihren Dank beweisen, indem sie sein Geschlecht anfasst. Aber fing die Täterschaft des Judenältes-ten erst an, als er die von den Nazis verliehene Macht für seine persönlichen Interessen ausnutzte?

Die Aufgabe der Judenräte bestand darin, das Ghetto zu verwalten: das streng rationalisierte Essen, die Zwangsarbeit und Schlafplätze in überfüllten Zimmern zu verteilen. Repressalien zwangen sie, die Anweisungen der SS zu befolgen. Ihre Macht über die übrigen Getto-Insassen war den Judenräten von den Nazis übertragen. Ob sie damit selbst von der Seite der Opfer auf die der Täter wechselten, ist seit Hannah Arendts These, dass ohne die „bürokratische Mitwirkung“ der Juden deren Vernichtung nicht hätte verwirklicht werden können, umstritten.

Eichengreen lässt eine Diskussion über diese Frage zu – außer bei Rumkowski, mit dem sie aufgrund der eigenen Erlebnisse abrechnen will. An anderer Stelle aber erwähnt sie jüdische Sonderkommandos, die bei Deportationen eingesetzt waren, und sie schreibt: „Diese Männer waren nicht so brutal wie die Deutschen – sie befolgten ,einfach' Befehle und trieben alle zusammen, deren Namen auf der Liste standen. Hatten Sie eine Wahl? Waren sie so hilflos wie der Rest von uns?“ Rumkowski dagegen ist für sie Komplize der Vernichtung: „Untereinander fragten wir uns: Ist Rumkowski auf unserer Seite oder auf der Seite der Deutschen?“

Am 4. September 1942 verlangt die SS die Deportation von 24 000 Juden. Rumkowski verhandelt mit den Nazis über die Anzahl der Opfer, drückt die Zahl auf 20 000 und legt fest, wer auf die Liste gesetzt werden soll. Dadurch, so wirbt er um Verständnis, würde er die Vernichtung aller verhindern: „Man gab mir den Befehl, 20 000 Juden zu deportieren. Tun wir es nicht, so tun es andere. Ich muss Kinder nehmen, denn andernfalls könnten andere genommen werden.“ Für Eichengreen hatte er damit „nur allzu deutlich gemacht, dass er mit Rücksicht auf das Wohl des Ghettos mit den Deutschen kooperieren würde“. Er habe Verständnis dafür eingefordert, aber „was gab es da zu verstehen?“

Eine Gegenposition ist im Vorwort zu Eichengreens Buch nachzulesen. Mit dem Rundfunkjournalisten Bernd C. Hesslein ist ein Faschismusexperte zu Wort gekommen, der Eichengreen zwar das Recht auf eine persönliche Abrechnung mit ihrem Peiniger zuerkennt – ihr aber andererseits Verständnis für die Judenräte abverlangt: „Die Opfer bleiben Opfer, auch wenn sie Werkzeuge der Täter waren.“

Dass sich Historiker und Zeitzeugen immer wieder über die Täterschaft der Judenräte streiten, ist Ausdruck der nationalsozialistischen Machtstruktur: Zu ihr gehörte auch, über das Einbinden der Juden in die Hierarchie des Verfolgungs- und Vernichtungsapparats Zweifel an deren Unschuld zu schüren. Wie schwer es ist, sich gegen die von den Nazis ermächtigten Täter aufzulehnen, das thematisiert Eichengreen in ihren Erinnerungen.

Lucille Eichengreen: Rumkowski, der Judenälteste von Lodz, Europäische Verlagsanstalt, 140 S., 28 Mark