Heimwehmusik und einkaufen bei Hertie

Das KreuzbergMuseum zeigt die Geschichte des Bezirks als Lebensmittelpunkt für Migranten aus der Türkei

Die jungen Frauen kamen mit dem Zug. Losgefahren waren sie in Istanbul, die Reise führte über München nach Berlin. Das war 1964. Berliner Firmen hatten die Frauen angeworben. Sie sollten hier Fernsehgeräte montieren, Telefone zusammenschrauben und im Akkord am Fließband arbeiten. In Westberlin herrschte nach Mauerbau ein Mangel an Arbeitskräften. Den sollten die Türkinnen ausgleichen. Die Textil- und Elektroindustrie suchte Facharbeiterinnen, besonders solche, die fingerfertig waren. Deutschland war den Frauen unbekannt. Viele landeten zuerst im Wohnheim. Fast 40 Jahre ist das her. Eine Ausstellung im KreuzbergMuseum zeigt jetzt die Historie Kreuzbergs als Lebenswelt türkischer MigrantInnen. Die Geschichte wird aus der Perspektive der ersten Generation türkischer Einwanderer der 60er-Jahre erzählt.

Heraus kommt dabei eine liebenswerte Sammlung von Privatfotos, Interviewschnipseln und Erinnerungsgegenständen. Ein Foto zeigt etwa Filiz Yüreklik bei ihrem ersten Einkauf bei Hertie. Eine Tonbandstimme, die über eine Trockenhaube eines Friseurstuhls abgespielt wird, gehört der Betreiberin des „Cinema Kent“, des ersten türkischen Kinos in Kreuzberg. Genauso erzählt der erste türkische Polsterer-Meister seine Biografie. Daneben steht ein Ständer voller Kassetten mit „Heimwehmusik“ türkischer Interpreten. Traurige Sehnsucht springt einen auch bei manchen Bildern an: Akili Vesalet sitzt mit Arbeitskolleginnen auf einem schmalen Wohnheimbett. Die Frauen tragen ärmellose Sommerkleider. Fröhlich sehen sie nicht aus. Bei den Porträts türkischer Familien aus dem Fotoatelier „Mathesie“ denkt man dagegen eher heiter: „Was für Frisuren! Was für Bärte! Was für Schlaghosen!“

Die Zuwanderung aus der Türkei in die Bundesrepublik geht weiter, Berlin-Kreuzberg ist immer noch Anlaufstelle. Die Gründe für den Umzug nach Deutschland haben sich jedoch im Lauf der letzten Jahrzehnte verändert: Nach dem Anwerbestopp von 1974 holten viele als „Gastarbeiter“ angeheuerte Türken ihre Ehepartner und Kinder zu sich. Mit der Machtübernahme des Militärs in der Türkei Anfang der 80er-Jahre nahm die politisch motivierte Migration nach Berlin zu. Unverändert hoch bleibt die Zahl der Türken, die zum Heiraten nach Kreuzberg kommen.

Auf einer Etage hat das Museum eine Topographie des Bezirks aufgebaut. Mit der Markierung türkischer Geschäfte, Initiativen und Vereinen soll das heutige „türkische Kreuzberg“ verortet werden. „Das Gebiet hat eine Entmischung erlebt“, kommentiert der Ausstellungsleiter Martin Düspohl diesen Raum der Ausstellung. „Multikulti ist hier nicht mehr vorhanden.“ Diese Entwicklung findet Düspohl zwar an sich nicht beklagenswert. Er bedauert indes, dass der Mittelstand den Bezirk verlasse. Zurück blieben die sozial Schwachen. Düspohl will darum mit der Ausstellung auch das Bewusstsein für das Gebiet rund um das Kottbusser Tor in der Bevölkerung schärfen. „ ,Klein-Istanbul‘ muss kein Schimpfwort sein“, sagt er. Man könne diese Bezeichnung auch als Kompliment für das Viertel auffassen. KIRSTEN KÜPPERS

Die Ausstellung läuft ab heute 18 Uhr bis 1. April, mittwochs bis sonntags 12 bis 18 Uhr im KreuzbergMuseum, Adalbertstraße 95a, 10999 Berlin. Eintritt frei.