Die Gemeinschaft im Blick

Die EU-Berichterstattung der taz zeigt: Europa ist mehr als Richtlinie und Gipfelbeschluss

Von SABINE HERRE
und DANIELA WEINGÄRTNER

Gelegentlich muss man nur einen Schritt zurücktreten, um die Dinge klarer zu sehen. Für Australier zum Beispiel ist Europa jener Kontinent, in dem wieder Glaubenskriege geführt werden – die vor allem deshalb beendet werden sollten, damit Australien keine Flüchtlinge aufnehmen muss. Shakespeare und Mozart dagegen, die wir für unsere europäische Kulturidentität reklamieren, werden in Sydney als Teil der „Weltkultur“ begriffen.

Zurück in Deutschland, ist die Sache viel schwieriger. In der vergangenen Woche diskutierten rund 50 EU-Experten zwei Tage lang über Osterweiterung, Grundrechtecharta und das Zauberwort von der „flexiblen Zusammenarbeit“, wo jedes Unionsmitglied seinen Integrationsgrad selbst bestimmen kann. Doch am Ende stand der ermattete Ausruf einer jungen Frau: „Warum machen wir das alles? Was ist das eigentlich – Europa?“

Für die taz war die Berichterstattung über Ost- wie Westeuropa schon immer besonders wichtig. Trotz unseres schmalen Budgets haben wir KorrespondentInnen in 15 europäischen Ländern, in den ersten Jahren nach den mehr oder weniger samtenen Revolutionen gab es in Berlin gleich drei Redakteure, die die Berichterstattung über Europa planten.

Nun geht die taz noch einen Schritt weiter: Zum 1. November wurde eine Redakteurin beauftragt, sich künftig ressortübergreifend um die Europäische Union zu kümmern. In den meisten Zeitungen wird der Bereich EU zwischen Auslands-, Wirtschafts- und Inlandsressort hin und her geschoben. Die meisten Brüsseler KorrespondentInnen leiden darunter, keinen festen Ansprechpartner zu haben. Die Folge: Das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit wird von allen Politikern beklagt, die mit Europapolitik zu tun haben.

Seit es in Berlin nun aber eine EU-Redakteurin gibt, kommt sogar der fruchtbare Austausch mit den Kollegen in Paris, Warschau oder Madrid in Gang. Denn Europa ist ja nicht nur die Richtlinie aus Brüssel und der Gipfelbeschluss von Nizza. Spannend wird es, wenn in der Zeitung die Frage beantwortet werden kann, wie diese politischen Entscheidungen in den Mitgliedsländern der Union aufgenommen und umgesetzt werden.

Warum sich europäische Themen nicht eindeutig einem klassischen Ressort zuordnen lassen, kann man an zahllosen Beispielen deutlich machen: Seit Wochen debattiert die deutsche Öffentlichkeit leidenschaftlich über Einwanderung und Asyl – dass im Amsterdamer Vertrag einheitliches europäisches Asylrecht ab 2004 vorgeschrieben ist, wird dabei unter den Teppich gekehrt. Die Frage, wie unsere Renten in Zukunft finanziert werden, können weder Hans Eichel noch Walter Riester allein beantworten. Die Europäische Union als Ganzes hat ein demografisches Problem. Womit wir wieder beim Thema Einwanderung wären. Und bei der Tatsache, dass schon heute rund 70 Prozent aller nationalen Entscheidungen indirekt via Binnenmarkt von Brüssel mitbestimmt werden.

Die mangelnde Begeisterung von Politikern, Blattmachern und vielleicht auch Ihnen, liebe LeserIn, sich auf das Thema EU einzulassen, ist nicht schwer zu erklären: Entscheidungsprozesse, an denen fünfzehn Staaten beteiligt sind, verlaufen eben komplizierter und unübersichtlicher als Abstimmungen im Deutschen Bundestag. Die logische Aufgabenteilung und Machtkontrolle zwischen Rat, Kommission und Europaparlament wird zwar immer wieder gefordert, in zwei Wochen beim EU-Gipfel in Nizza aber wohl ein weiteres Mal verschoben. Stattdessen deutet sich ein ganz anderer Prozess an: Politik wird zwar zunehmend in Brüssel gemacht, aber nicht im demokratisch gewählten Parlament oder in der supranationalen Kommission. Stattdessen verlagern sich die Entscheidungen hinter die verschlossenen Türen des Ministerrats, wo Nationalpolitiker im Stil des 19. Jahrhunderts ihre Interessen austarieren. Deshalb muss die Berichterstattung über Europa mehr sein als die Übersetzung technokratischer Richtlinien in verständliches Deutsch. Während sich das politische System der europäischen Nationalstaaten auf absehbare Zeit nur noch in Nuancen ändern wird, ist die EU „under construction“. In zehn Jahren wird sie doppelt so viele Mitglieder haben wie heute. Daher darf es nicht mehr nur darum gehen zu berichten, was heute Inhalt europäischer Politik ist. Vielmehr muss die Frage diskutiert werden, welches Europa wir für die Zukunft wollen. Die taz wird sich an dieser Debatte lebhaft beteiligen.