Eine Frage von Licht und Schatten

Was viele Künstler in sonnendurchflutete Regionen des Südens zieht, findet die Italienerin Carla Corticelli in Berlin. Sie liebt das gedämpfte Licht der Stadt, den Wedding, den Stein und das ganz Alltägliche, Unangestrengte

Die Malerin Carla Corticelli ist in Italien geboren. Vor über zwanzig Jahren hat sie ihrer Heimat den Rücken gekehrt und kam nach Berlin. Sie wohnt nicht in der galeriereichen Mitte, nicht in Prenzlauer Berg und nicht in Kreuzberg, den eifersüchtigen berlinischen Montmartres. Sie wohnt im Flachland, dem schmucklosen Wedding, in dem es kaum ein Kino gibt, kein Theater und erst recht keine Galerie. Sie wohnt in der Nähe des Sparrplatzes, auf dem türkische Jungs hinter den haushohen Gittern des Fußballplatzes von einer Karriere in Stollen träumen. Wo der „Seemann“ liegt, eine jener Berliner Kneipen, in denen sich morgens um vier alte Pärchen zu alten Schlagern drehen, und eine jener Adressen, deren Erwähnung Taxifahrer seufzen lässt.

Kreuzberg ist nicht das Richtige für Carla Corticelli. In Kreuzberg stehen zu wenige Billardtische. Sie beugt sich über den Tisch, visiert mit einem Auge über die gerade Linie des Queues die Kugel an und kneift die Lippen zusammen. Billard, das ist die Kunst, eine Kugel über eine rechteckige Fläche zu bewegen, das Zusammenspiel zweier geometrischer Formen.

Carla Corticelli steht neben dem Zapfhahn und erzählt der Kellnerin in einer komplizierten, mit Fremdwörtern und einem starken italienischen Akzent angereicherten Sprache von ihrer Arbeit. Sie spricht darüber wie alle im Wedding, wie die Klempner, die Gärtner und Fensterputzer: ohne viel Aufhebens davon zu machen. „Weißt du, was ich sagen will?“, fragt sie die Kellnerin. Die hat ihr den Rücken zugewendet und bemüht sich, die Kaffeemaschine auf Hochglanz zu polieren. „Was ich meine, ist dieses Licht. Ich kann bei diesem Licht nicht arbeiten. Ich hasse die Sonne, diesen blauen Himmel. Da werden die Farben zu aufdringlich!“ Sie trinkt aus dem Weizenbierglas. „Seit drei Tagen gehe ich jeden Morgen in mein Atelier und sage mir: Okay, jetzt ist es eben ein bisschen heller als sonst. Aber dann stehe ich vor den Bildern, die ich letzte Woche angefangen habe, als es noch jeden Tag regnete – und erkenne sie nicht wieder. Was soll ich tun? Ich kann nur warten. Bis das Wetter wieder besser wird. Verstehst du, was ich meine?“

Dann gesteht sie: „Ich liebe das Licht von Berlin. Dieses diffuse Licht, weißt du. Das ist ein nüchternes, ehrliches Tageslicht.“ Die Kellnerin hat die Kaffeemaschine trocken gerieben und sich den Aschenbechern zugewandt. Manchmal sieht sie auf und nickt. Ein betrunkener Fensterputzer kommt herein und beginnt, Carla Corticelli von der Invasion intergalaktischer Götter zu erzählen, einer gewaltigen Raumschiffflotte, die sich nähere, um den Frieden auf Erden wiederherzustellen. Als er seinen Monolog beendet, sieht sie ihn an und sagt: „Ich liebe Blau. Blau ist eine Farbe, die nach hinten geht. Rot ist mir zu präsent.“ Warme Farben passen nicht in den Wedding. „Warme Farben machen Bilder nicht schöner!“

Wenn ein Rosenverkäufer der Malerin mit einem Strauß von Blütenkelchen entgegentritt, verzieht sich ihr Mund. Carla Corticelli mag keine Blumen. Schon damals, als ihre Mutter das Grab der Schwester täglich mit einem frischen Strauß schmückte, empfand sie die Farbenpracht als störend zwischen den bleichen, steinernen Skulpturen des berühmten Genueser „Camposanto di Staglieno“, der sich vom Ufer des Flusses den Berg hinaufzog. Menschen brauchen keine Natur als Hintergrund, „sie finden sich allein zurecht“, Natur ist Beiwerk.

Carla Corticelli liebt Stein, Licht und Schatten. Deshalb kam sie 1977 nach Berlin. Wegen des Schattens, den die Mauer warf. Sie war in London, in Paris gewesen. Aber es war Berlin. Der Wedding gefiel ihr. Wenn sie hier im Wedding bei Bolle an der Kasse steht, gerade aus ihrer winzigen Dachkammer mit den Farbtöpfen heruntergestiegen, und die Kassiererin sie fragt: „Na, was macht die Kunst?“, und die Malerin von Rot oder Blau zu erzählen beginnt, dann lacht die Frau hinter der Kasse: „Eigentlich wollte ich nur wissen, wie es geht!“

Dem Trubel in der neuen Mitte der Stadt ist Carla Corticelli gerne aus dem Weg gegangen. Aber jetzt könnte er zu ihr kommen. Jetzt sind ihre Bilder in der Galerie Tammen und Busch am Chamissoplatz. Und „das ist auch nicht schlecht! Ich meine, eigentlich male ich ja für mich – aber ich brauche die anderen als Zuschauer!“ HANS W. KORFFMANN

Die Ausstellung geht noch bis zum 3. 12. in der Galerie am Chamissoplatz, Chamissoplatz 6, 10965 Berlinwww.tammen-busch.de