Utopie auf Französisch

■ Mittels Musik die Gesellschaft verstehen, mittels Soziologie die Musik: Auch die 10. Tagung der Projektgruppe Neue Musik verbandelt Hören, Partituranalyse und Philosophie überzeugend

Spätestens seit der „Tagung“ der Heinrich-Böll-Stiftung vor drei Wochen mit dem Anti-Titel „Kunst in der Gegenwart“ – ein Dokument bemerkenswerter Einfallslosigkeit – und einem willkürlich zusammengeschusterten Haufen von Referenten und Künstlern, weiß man die penibel konzeptionierten Tagungen der „Projektgruppe Neue Musik“ (pgnm) so recht zu würdigen. Ihre Themen verfolgt die pgnm mit solcher Inbrunst, dass sie sich von keinen vermeintlichen ,Sachzwängen' von den Erfordernissen der jeweiligen Sache ablenken lässt. Eine Umbaupause von einer geschlagenen Stunde: Das schreckt sie mitnichten von einem Stück ab. Auch nicht, dass für dieses Stück extra das renommierte, sicher nicht billige Klangforum Wien anreisen muss – und anschließend wieder abreist, weil für die anderen Stücke andere Interpreten gebraucht werden.

So gibt die pgnm selbst ein exzellentes Beispiel ab für das Motto der Tagung: „Strategien des Eigensinns“. Und der Reader zur Tagung macht sehr schnell klar, dass es dabei nicht nur um die Entwicklung neuer, individueller musikalischer Formen geht, sondern um die Möglichkeit/Unmöglichkeit von Gegenentwürfen zur herrschenden Gesellschaft (,altmodisch' gesprochen: um Utopie). Klar, dass sich neues Denken, falls es ein solches geben sollte, in der Struktur der Musik auffinden lassen müsste. Und da hält die pgnm ein zentrales Begriffspaar von Gilles Deleuze für produktiv: das der „Wiederholung und Differenz“ – im Gegensatz etwa zur „Entwicklung“ von Themen in der klassischen Sonatenhauptsatzform.

Und damit ist auch schon die philosophische Grundhaltung der pgnm umrissen. In Deutschland war es lange common sense, dass die postmoderne französische Theorie eine Ablösung bzw. Nichtung der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule bedeutet. Wolfgang Welsch aber versuchte in Anlehnung an Lyotard diesen vermeintlichen Gegensatz aufzulösen. Und auch Nicolas Schalz von der pgnm gemeindet in seinem Referat das französische Denken frech und ungeniert ein in die kritische Theorie. Vagabundierende, nomadische, suchende, rhizomatisch-verästelte, wuchernde, vielschichtige – eben „postmoderne“ – Strukturen hält er für die heutzutage fortgeschrittenste Formsprache, welche – laut dem guten alten Adorno – allein in der Lage ist, herrschende hierarchische, wahr-falsch-gut-böse-Antagonismen verhaftete Machtstrukturen zu überwinden und eben doch noch eine bessere, schönere, liebenswertere Gesellschaft anzuvisieren. Utopie und Postmoderne gehen plötzlich zusammen, zielgerichteter Sozialismus und das Beschwören der Mannigfaltigkeit und des Nichtfestgelegten werden miteinander vereinbar.

Anstelle eines ritualisierten Wechsels von Referat und Diskussion nähert man sich den Stücken über verschiedene Zugangsschneisen: Komponist befragt Komponist; Komponist darf sein eigenes Werk erklären; Publikum befragt Komponist; Philosoph, der von Musik keine Ahnung hat, nähert sich einem Musikstück, etc.

Dem „Lautaggregat“ (1993) (das sind die tendenziell unappetitlichen, würgenden, röchelnden „Sprechoperationen von Bändern“ (1993) vom bildenden Künstler Carlfriedrich Claus) muss es bei seiner Aufführung bei den Darmstädter Musiktagen gelungen sein, in Windeseile drei Viertel des Publikums aus dem Raum zu ekeln. In Bremen ist man toleranter, bleibt sitzen, um anschließend über unangenehme Assoziationen an die Psychiatrie zu reflektieren. Doch wie plausibel und faszinierend wird das Stück in der Terminologie des lyotardgeschulten Joseph Vogl. Und so lernen wir fürs Leben, dass, wenn uns mal ein Rülpser entfleucht, Großes geschieht. Handelt es sich doch um eine Deterritorialisierung und Sinnbefreiung der Sprache, die allerdings den Mitbürgern eine gewisse „affektive Athletik“ abfordert. „Der Mund wird zum unbestimmten Organ, zum Mehrzweckorgan“, „die Vielstimmigkeit der einen Stimme wird hörbar“ – und die alten Zuschreibungs- und Herrschaftsmuster stürzen zusammen. – Klar lässt sich der Jargon der Franzosen ganz einfach verarschen. Doch die gegenseitige Bereicherung von Hörerlebnis und Darüber-Sprechen funktioniert bei der Tagung bestens, und manche Hörblockade – vielleicht auch gegenüber dem Rülpsen – kann durch Worte durchstoßen werden. Und so war die Komponistin Silvia Fomina in der Minderheit mit ihrer Position, dass die Analysiererei heute abnerve, dass die Stockhausen-Boulez-Generation der 60er Jahre alles zu Ende beredet habe, dass der Komponist zwar sein Handwerk genauestens zu durchschauen habe, aber den Zuhörer gefälligst damit nicht langweilen möge.

Fominas Misstrauen in die Analyse des Material, dessen Gebrauch/Zerstückeln/Verfremden/Schichten/Kehrtwenden, bekam aber durchaus eine Plausibilität. Sowohl ein verflüstertes Cellostück von Georges Aperghis als auch ein kraftstrotzendes Klavierwerk von Salvatore Sciarrino oder ein lustig-traurig-klezmeresk groovendes, hyperkomplexes Orchesterstück von Bernhard Lang lässt sich glänzend mit den Begriffen Wiederholung/Differenz beschreiben. Die Stücke arbeiten mit Modulen, die drei-, fünf-, hundertfach wiederholt werden. Die von einem Baustein zum nächsten vorgenommenen Veränderungen sind nicht mehr kalkulierbar – ein Vorwärtstreiben der Minimal Music. Das gilt für alle drei Stücke. Und doch gibt es gewaltige Differenzen in der Art der Differenzen (und Wiederholungen). So provoziert die Wiederholung das eine Mal einen deftigen Beat, das andere Mal eine abgeklärte Haltung der Meditation.

Und dann die Sache mit den vielen hauchigen, quiekenden, stöhnenden Klängen. Handelt es sich ganz abstrakt um „Exterritorialisierung“ oder nicht doch um ein altes humanistisches, psychologisches Projekt: endlich zu lernen, das Verkrüppelte, Schwache, Leise, Unvollkommene zuzulassen und vielleicht zu lieben. „Verkündigung“ vom 41-jährigen Österreicher Peter Ablinger arbeitet mit dem Missgeschick und Versagen. Seinen drei Instrumentalisten fordert er irrwitzig schnelle Läufe ab, bei denen aber die Mehrzahl der Töne verschluckt oder verhaucht werden müssen. So biegt und windet sich Saxophonist Sascha Armbruster in schönster egomanischer Freejazzer-Ekstase. Zu hören ist aber nur ein Röcheln und dazwischen hier und da ein atomisierter Einzelton. „Das ist ja schön und gut. Aber fünf Minuten hätten doch genügt, da hat man das Prinzip kapiert“, soll eine Hörerin nach 25-minütiger Zerbröselungs-Etüde gestöhnt haben. „Aber dann fängt es doch erst an“, konterte Aiblinger, schließlich geht es nicht um das selbstzweckhafte Erfinden neuer Formen, sondern darum, ob und wie man mit ihnen leben kann.

Noch radikaler machte ein hochverkabeltes Konzert am Sonntagmorgen aus einer Sache eine ganz andere. Zwei Trios und ein Duo improvisieren gleichzeitig in getrennten Kämmerchen. In einem vierten Raum flanieren die Zuschauer – und Gott in Form von Bernhard Lang, der an seinem Mischpult darüber herrschaftlich entscheidet, was von diesem Basismaterial zu hören ist und was nicht. Und wie Gott weiß er nicht genau was bei seiner Schöpfung rauskommt und muss sich von seinen Kreaturen (den Improvisateuren) überraschen lassen. Via Videoübertragung sehen die Zuhörer sämtliche Musiker und es ist manchmal zu komisch ihnen beim Rackern zuzusehen bei abgedrehten Ton – als sollten die virtuosen Authentizitätsgesten von Klassik/Rock/Jazz gründlich verarscht werden. Der viel zitierte Tod des Subjekts – aber auch dessen Rettung, denn den Musikern macht's wüste Fiedeln trotz Dekonstruktion durch Gott Spaß.

Kann Musik uns darin trainieren, unsere Stimme mit einem Meer von anderen Stimmen zu reiben/vernetzen/vermischen/verflüssigen? Für Cellist Taco Kooistra eine praktische Frage. In einem eminent dicht gewebten, mikrotonalen Stück Fominas kann er seine Töne nur finden, wenn er die Reibungen zu den anderen Stimmen ausblendet und sich auf sein eigenes, kleines, tonales System konzentriert. Und doch weiß er von der Mikrotonalität der Welt da draußen. bk