Was wäre, wenn ... man Kafka verfilmte?

■ Kafka-Adaptionen im Elbe Kino: Klassenverhältnisse und Der Prozess beenden Reihe

„Was wäre, wenn...“ ist die Frage Kafkas. Was wäre, wenn man eines Morgens als Ungeziefer auf dem Rücken liegend erwacht und nicht zur Arbeit gehen kann? Was wäre, wenn man eines schönen Tages plötzlich ein Angeklagter ist und nie gesagt bekommt, worin die Anklage besteht? Was wäre, wenn man sich unversehens auf dem Weg nach Amerika befindet und dabei ungewollt von den unterschiedlichsten Menschen aufgenommen wird?

In den Schriften Kafkas passieren solche Dinge, immerzu geschieht etwas Neues, treten die Hauptfiguren in absurde Geschichten ein, die durch unschuldige, kleinste Verfehlungen, durch ein ganz unmögliches Wetter oder durch reinen Zufall zustande kommen. Die Kafka'sche Welt ist grotesk und absonderlich, lässt die Orientierung scheitern und liefert die LeserInnen nicht ihren rationalen Fähigkeiten aus, sondern Gefühlen, die aus solchen Situationen entstehen.

Eine gelungene filmische Umsetzung müsste sich daher auch dieser Auslieferung annehmen und sie mit ihren Mitteln in Szene setzen. Als Pate für ein solches Gelingen kann in diesem Sinn beispielsweise Orson Welles gelten, der Kafkas Der Prozess mit Starbesetzung (Anthony Perkins, Romy Schneider, Jeanne Moreau) verfilmte und für den Auslöschung der Individualität durch moderne, sich anonymisierende Mächte, beispielsweise die Bürokratie, im Vordergund stand.

Durch seine Raumgestaltung, durch den Einsatz von Licht und Schatten und insbesonders durch die großartige Besetzung gelingt es Welles, Un- und Überpersönliches in Szene zu setzen und jegliche Ausformulierung eines „persönlichen Schicksals“ zu vermeiden. Demgegenüber ist die Neuverfilmung von Der Prozess, die am 12. und 13. Dezember im Elbe-Kino zu sehen sein wird, gänzlich missglückt. Zwar hält sich Regisseur David Jones in einer „sklavischen Nähe“ (Lexikon des internationalen Films) zur Romanvorlage auf; doch die bloße Übertragung von Handlung und Dialog kann gar nicht glücklich aufgehen, wenn jegliche Zwischentöne fehlen.

Wenn bei Kafka die Figuren nur „sagen“, dann schreit es bei Jones schon, wenn Herr K. bei Kafka seine Papiere nicht findet, dann werden bei Jones schon die Schreibtischschubladen mit Wucht und Wut aufgezogen. Was sich bei Kafka in kleinen, unmerklichen Gesten anfindet, im Zittern beispielsweise, von niemandem beachtet, das wird hier in eine völlig überspielte Gefühlsskala übersetzt. Dadurch wird Herr K., der bei Kafka nur eine Figur ist, an der sich etwas erweist, zu einem ausgewachsenen und zumal unsympathischen Charakter.

Den umgekehrten Weg schlagen die RegisseurInnen Jean-Marie Straub und Danielle Huillet ein, wenn sie Kafkas Amerika in den Film übersetzen, den das Elbe-Kino am kommenden Dienstag und Mittwoch zeigt. Hier sprechen die Figuren im Brechtschen Sinn einen Text, der nicht der ihre ist und den sie deutlich zitieren. Ganz unpersönlich wird dadurch die Landschaft der Klassenverhältnisse, wie sie ihre Adaption genannt haben. Durch diese thematische Engführung gelingt es ihnen, wenigstens eine jener unpersönlichen Mächte zu benennen, die in Kafkas Texten am Werke sind, sich an Jedermann vergreifen und gleichfalls an ihn wenden. Auch wenn Klassenverhältnisse durch die Brecht'schen Verfremdungen ein anstrengender Film ist, so ist er durch seine interpretative Kraft deutlich Verfilmungen vorzuziehen, die auf das Persönliche abzielen und gerade deshalb Kafka verfehlen wie ich bisweilen die Rose auf dem Schießstand. Nämlich weit. Doro Wiese

Klassenverhältnisse: Di + Mi, 20.30 Uhr; Der Prozess: Di, 12.12. + Mi, 13.12., 20.30 Uhr, Elbe-Kino