Sensible Systeme der Spiegelung

Vom Glück der Sterblichkeit: Tristán Bauers „Die Bücher und die Nacht“, ein süchtig machender Film über Jorge Luis Borges

von KATHRIN BETTINA MÜLLER

Literatur als Erdrutsch: Einmal schwenkt Tristán Bauer vom jungen Bibliothekar Jorge Luis Borges vorbei an Regalen zum alten Dichter Borges, der am Fuß eines Berges herabgerutschter Bücher hockt und noch immer liest. Er liest mit der Verzweiflung dessen, der weiß, dass eine Lebenszeit nicht ausreicht, alles Geschriebene zu durchqueren. Äußerst selten nur verlässt er die Bibliothek, und in ihr schließt uns auch der argentinische Regisseur Tristán Bauer ein, der zum hundertsten Geburtstag seines großen Landsmanns Jorge Luis Borges den Film „Los Libros y la Noche“ (Die Bücher und die Nacht) gemacht hat.

Einen Film über Borges zu drehen gleicht der Aufgabe, den wichtigsten Begriff einer Enzyklopädie zu finden. Der Regisseur kämpft mit der Flut der Worte wie einer, der sich nicht entscheiden kann, was er aus einer Überschwemmung retten soll. Jedem der Interviews, die er ausgegraben hat, würde man gern länger zuhören, jede begonnene Erzählung gern weiterlesen. Wenn Bauer dann dem Vorgelesenen auch noch Manuskriptseiten unterlegt, kommen Augen und Ohren kaum noch nach. Bis sich die Erzählstränge so ineinander verflochten haben, dass man darin immer wieder dieselbe Geschichte erkennt.

Borges, der Autor, verwandelt sich in seine Figuren. Er begegnet sich selbst als Vater und Sohn, die beide nicht wissen, wer den anderen gerade träumt. Borges’ Erzählungen bringen Raum und Zeit zum Schmelzen. Sie blicken dem Schrecken des Unendlichen ins Angesicht und verirren sich in Systemen von Spiegelungen; über nichts ist man so froh am Ende der Geschichten wie über die eigene Sterblichkeit. Immer wieder malt sich der Dichter das Leben der Unsterblichen aus, für die alles gleichgültig geworden ist. Sie brauchen keine Museen, keine Bibliotheken und keine Politik mehr. Sie haben in Jahrhunderten so viel erlebt, dass nichts mehr besonders hervorsticht. Sie sind zu blassen Figuren geworden, gänzlich ungeeignet als dramatisches Personal eines Films. Sie sind Erzähler, keine Helden.

Am Ende ist jeder Erzähler wieder nur die Erfindung eines anderen. Durch diese Verwirrspiele tilgte der Autor Borges, der in der Anonymität aufgehen wollte, seine Spuren. In diffizilen Labyrinthen und Bibliotheken siedelt er seine Systeme der Echos, Spiegelungen und Wiederholungen an.

So beschreibt er mit den Mitteln eines schriftbesessenen Enzyklopädisten des 19. Jahrhunderts, was am Ende des 20. im Kino Filme wie „Matrix“ hervorgebracht hat. Borges’ Kultstatus beruht sicher nicht zuletzt darauf, die Machtspiele des Cyberspace vorgedacht zu haben. Da macht es nicht viel aus, dass Bauers Verbeugung des Kinos vor der Literatur ein wenig raschelt wie Papier.

Der Film konfrontiert die weiten Zeiträume der Erzählungen mit der abgemessenen Strecke von Borges’ Biografie. Bauer hat den ersten Weltkrieg und den Falklandkrieg, die Diktatur Peróns und die Mondlandung als Eckdaten ausgesucht, die er sensibel bis in die Sprache des Dichters hinein verfolgt. Da merkt man erst recht, wie groß der Abstand war, mit dem der 1899 geborene Autor auf das eigene Leben blickte. Nie verharrt er auf dem Punkt x, auf dem er sich auf der eigenen Zeitachse gerade befindet, sondern saust vor und zurück, den Beschränkungen der Gegenwart allemal entkommend.

„Los Libros y la Noche“, Buch undRegie: Tristán Bauer, Argentinien 2000