in fußballland
: CHRISTOPH BIERMANN über heimatlose Löwen

Weiß-Blau ohne Ort

An seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, allerdings noch daran, dass er aus meiner Heimatstadt kam. Das war insofern bemerkenswert, als sie fast sechshundert Kilometer vom Stadion an der Grünwalder Straße in München entfernt ist. Ich war, als wir uns trafen, zufällig dort, der junge Mann mit der weiß-blauen Fahne, wo der Name unserer Stadt zu lesen stand, war es nicht. Er war auch zu dieser Partie der Bayernliga, wie die dritte Spielklasse damals noch hieß, extra angereist. Das machte er bei jedem Heimspiel so und fuhr manchmal gar nach Ampfing, Regensburg oder wo seine Mannschaft sonst gerade kicken musste.

Der Fall des Jungen aus meiner Heimatstadt soll hier nicht weiter erörtert werden, jedenfalls nur insofern, als seine Obsession besonders gut zu dem Klub passte, der seine Anhänger in jener Zeit vor allem leiden ließ. Zehn Jahre lang spielte der TSV München 1860 in der Drittklassigkeit und taumelte zwischen Pleiten, Skandalen oder Demütigungen hin und her, derweil seine Fans in großer Zahl trotzdem nicht ablassen wollten von ihrem Klub und bei jedem leichten Schimmer von Hoffnung zu tausenden kamen, um doch nur wieder enttäuscht zu werden.

Die Löwen waren ein magischer Verein, weil sie sich einen Mythos erarbeitet hatten. Der erzählte von einstigem Glanz, der verloren wurde; von einer Hoffnung, die nie aufgegeben wurde, dass der Klub der kleinen Leute einmal wieder zu alter Größe auferstehen würde und es zur Belohnung Meisterschaften und Pokale regnen würde. Dieser Mythos war so stark, dass er sogar den Jungen aus meiner Heimatstadt in den Bann zog, obwohl er die großen Zeiten nur aus Erzählungen kannte.

Das Stadion an der Grünwalder Straße war ein idealer Ort dafür, so eng in die Stadt gezwängt, dass man von den Häusern auf der anderen Straßenseite den Spielen zuschauen konnte. Auf den Rängen, die dem Spielfeld beängstigend nah waren, inszenierten die Zuschauer ihre Hysterie, die meist bedrohlich für den Gegner, mitunter aber auch für das eigene Team war.

Irgendwann stieg der Klub in die zweite Liga auf, im Jahr darauf gleich in die Bundesliga, und die Hoffnungen schienen sich zu erfüllen, denn fast ununterbrochen ging es weiter nach oben. So schien es nur eine Fußnote, dass sie auf dem Weg ins Licht ihre alte Arena verließen und ins Olympiastadion umzogen. Die Gründe lagen auf der Hand, sie waren pragmatisch und ökonomisch. Das ist nun vier Jahre her, und alle Bilanzen werden die Entscheidung der Sechziger als richtigen Schritt ausweisen. Doch jene Fans, die damals Unterschriften sammelten, gar Protestmärsche organisierten und sich schließlich einfach weigerten, den Umzug ins Stadion des FC Bayern mitzumachen, haben Recht behalten. Es ist erstaunlich, aber der Klub, der in der Bundesliga Spitzenplatzierungen belegte, im Europapokal spielt und längst wieder richtige Stars in seinem Kader aufbieten kann, ist völlig uninteressant. Er kann das große Stadion, das nie seines werden wird, meist nur halb füllen. Seine Erfolge haben, mögen sie auch beachtlich sein, keinen Glanz. Er ist nun ein mittlerer Dienstleister im Gewerbe der Fußballunterhaltung, der sich mit einem barocken Präsidenten und einem knurrigen Trainer als volkstümlich positioniert.

Aber das gründet keinen neuen Mythos, denn dazu gehört ein Ort, und den hat 1860 München verloren. Viele andere Vereine sind schon in andere Stadien umgezogen und haben ihre Geschichten mitgenommen, aber sie sind dort auf niemand anderen getroffen, der die Steine schon beschrieben hat. Doch unter dem Zeltdach des Olympiastadions von München ist nur Platz für den großen glänzenden Mythos des FC Bayern.

Es mag damit nichts zu tun haben, vielleicht hat sich der Junge aus meiner Heimatstadt nur irgendwann glücklich verliebt und die weiten Fahrten zu seiner Münchner Liebe waren nicht mehr nötig, doch seine blau-weiße Fahne hängt heute nicht mehr vor der Kurve, wo die Fans der Blauen jubeln und träumen – von Siegen und der Rückkehr nach Hause.

Fotohinweis:Christoph Biermann, 39, liebt Fußball und schreibt darüber