Der Zeitgenosse

Heute vor hundert Jahren starb der Schriftsteller Oscar Wilde. Jörg W. Rademacher rekonstruiert zum Termin den unzensierten „Dorian Gray“

von DIRK KNIPPHALS

Zum hundertsten Todestag des Schriftstellers Oscar Wilde, der auf den heutigen Donnerstag fällt, sind unter anderem erschienen: eine Einführung, zwei Biografien, ein Erinnerungsbuch seines Enkels Merlin Holland, diverse Gesammelte-Werke-Ausgaben in zum Teil neuer Übersetzung oder aber in neuer Aufmachung. Das ist, auch für einen solchen Anlass, keine schlechte Ausbeute. Grundstürzende Neuigkeiten sind bei alledem aber nicht zu erwarten. Dank Richard Ellmanns akribischer Monumentalbiografie weiß man über die Fakten im Leben des Oscar Wilde ziemlich gut Bescheid. Und was die Deutungen, Einordnungen und Verehrungen betrifft, so ist auch da alles durchgespielt. Es finden sich schließlich immer mal wieder Anlässe, an denen man sie aufhängen kann. So lang ist etwa Brian Gilberts „Oscar Wilde“-Film noch nicht her, 1997 war das.

Wir haben es hier mit einem derjenigen Autoren zu tun, bei denen gleich mehrere Schlagwörter bereitstehen, unter denen die Bücher begraben werden. In diesem Fall immer wieder gerne genommen: Oscar Wilde, der Dandy; Oscar Wilde, der Märtyrer des lustfeindlichen Viktorianischen Zeitalters; oder Oscar Wilde, die schwule Ikone. Dagegen ist ja auch rein gar nichts zu sagen. Nur dass solche Sichtweisen auf das Werk aus der Perspektive umfassenderer Themen nun, zum Todestag, keinen Neuigkeitswert mehr beanspruchen können. Darüber hinaus liegen aber auch alle Möglichkeiten bereit, Oscar Wilde aus so einer durchschlagenden Wirkungslosigkeit eines Klassikers wieder herauszuhelfen. Am ehesten empfiehlt sich dazu ja immer eine Lektüre der Bücher, und die sind in vielfältiger Ausstattung greifbar.

Eine der Neuerscheinungen fällt allein schon aufgrund ihres Zweittitels ins Auge. Der Eichborn.Berlin Verlag bringt eine neue Übersetzung von Oscar Wildes einzigem Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ heraus und hat den Titel mit dem reißerischen Zusatz versehen: „Der unzensierte Wortlaut des Skandalromans“. Tatsächlich griff Jörg W. Rademacher, der Herausgeber, nicht wie sonst bei Übersetzungen üblich auf die Buchausgabe von 1891 zurück, sondern im Wesentlichen auf die ein Jahr früher in der Zeitschrift Lippincott’s Monthly Magazine erschienene Erstfassung, die auch in dem berühmten Prozess gegen Oscar Wilde als Beweismittel der Anklage Verwendung fand. Zudem hat er eine ganze Reihe von Streichungen und Abmilderungen, die Wilde selbst und sein Lektor vor der Drucklegung vornahmen, vom zugrunde liegenden Typoskript wieder eingefügt. Das Ergebnis ist aller Mühe wert: Die Ausgabe bietet die Chance, den Roman noch einmal wie zum erstenmal zu lesen.

Es geht hier gar nicht um freizügliche und womöglich unterdrückte Sexszenen, die wieder eingefügt wurden; so etwas hat Oscar Wilde zwar tatsächlich geschrieben, aber nicht im Zusammenhang mit dem „Dorian Gray“. Rückgängig gemacht werden vielmehr eine Vielzahl kleiner bis winziger Änderungen, in denen Wilde die homosexuellen Aspekte der Handlung und der Figuren zwar nicht tilgen, aber doch maskieren wollte. Und, eine interessante Technik der Selbstzensur: Es geht darum, dass Oscar Wilde von der Zeitschriften- zur Buchfassung fünf Kapitel hinzugefügt hat, die in der Eichborn-Ausgabe nun zwangsläufig fehlen: Neben dem Haupthandlungsstrang rund um Dorian Gray baute er einen zweiten Strang ein, der mit seiner Melodramatik dem damals allgemeinen Zeitgeschmack entsprach; nach seinem Kalkül sollten wohl diejenigen Leser, die die Männerliebe als shocking empfanden, durch einen unverfänglichen Seitenstrang abgelenkt werden.

Verblüffend: Gerade indem die homosexuellen Grundtöne nicht mehr verdeckt werden, sondern ganz offen ausgebreitet vor uns liegen, tritt dieser Aspekt bei der Neulektüre zurück. Es ist jetzt eben ganz selbstverständlich – und verliert im Kontext der Handlung an Gewicht. Dadurch verliert der Roman kein bisschen (nur wäre es schön gewesen, die nun fehlenden fünf Kapitel im Anhang zu dokumentieren). Im Gegenteil. Die Geschichte des Dorian Gray selbst tritt so nur viel besser hervor. Das ist, so wird in dieser härteren, klareren Fassung schneller und besser als zuvor klar, immer noch eine aktuelle Figur: genau auf der Schneide zwischen Sorge um sich selbst und Selbstsucht, zwischen Selbstentwurf und Selbstabgrenzung gegen andere existierend. Wie wir alle.

Oscar Wilde: „Das Bildnis des Dorian Gray. Der unzensierte Wortlauf des Skandalromans“. Herausgegeben, übersetzt, mit Anmerkungen und einem Dossier versehen von Jörg W. Rademacher. Eichborn.Berlin Verlag, Berlin 2000, 260 Seiten, 44 DM