Besinnung auf das urbane Urprinzip

Wie brachliegende Liegenschaften die Stagnationsinsel Stadt wieder flottmachen können: Aus Habenichtsen würden saturierte Bürger werden, wenn sie sich die kommunalen Immobilien aneigneten. Letzter Teil der Serie „B. wie Bürgerstadt“

Die Kommune hält mit ihren Immobilien das Instrument zur Genese in der Hand

von HANS WOLFGANG HOFFMANN

Die Stadt stirbt. Auf einer Karte hat das Bundesbauministerium kürzlich jene Orte gelb gefärbt, die in der letzten Dekade einen Bevölkerungsgewinn verbuchten. Nullsummenspiele wurden mit Orange markiert, das umso dunkler wird, je höher der Verlust ausfiel. Demnach liegen die Markflecken durchweg auf der Sonnenseite, während die urbanen Zentren wie Einschusslöcher wirken: blutrot. Dabei ist die Situation EU-weit dieselbe, aber in Ostdeutschland am ausgeprägtesten: Verbuchten die neuen Länder seit der Wende schon einen Bevölkerungsverlust von acht Prozent, werden sie nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts in den nächsten zwei Jahrzehnten eine weitere Million Menschen einbüßen. Der erste Sektor, der die Auswirkungen spürt, ist der Wohnungsmarkt. In Ostdeutschland sind derzeit eine Million Apartments unbewohnt. Am stärksten betroffen sind wiederum die Citys, wo nicht nur jedes achte, sondern sogar jedes dritte leer steht. Die einstigen Leistungsträger des Landes wirken nur mehr so wertvoll wie ein Wurmfortsatz. Freilich bestätigt das Szenario nur, dass die Siedlungsplaner ganze Arbeit geleistet haben. Seit der Jahrhundertwende ist die Industriestadt das Feindbild dieses Berufsstands, der stets in Staatsdiensten die offizielle Politik bestimmt. In Ostdeutschland wurden die produktiven Kerne, deren Sterben man im Westen noch mittels Subventionen verlängerte, ersatzlos stillgelegt und unter dem Schlagwort „Industrielles Gartenreich“ in eine Landschaft zum Lustwandeln verwandelt. Vom Wohnungsleerstand versprach sich die darauf angesetzte Fachkommission des Bundesbauministers „eine neue Stadtqualität der Schrumpfung“. Prompt forderte sie Amtshilfe für den Abriss von 350.000 Apartments. Die Marktbereinigung, die in dem ins Auge gefassten Segment ein Fünftel des Bestands betrifft, verheißt aber nur den Vermarktern Verdienstsicherung. Gewinn für die Gesellschaft, die in ihren Grundfesten erschüttert wird, verspricht der Verlust von Volksvermögen im Wert von 30 Milliarden Mark keinen. Im Gegenteil: Die Schrumpfung ist Selbstmord, speziell für den Staat, der dafür sogar die finanzielle Verantwortung übernehmen soll.

Allein in Berlin ist aktive Sterbehilfe nicht Amtspolitik. Hier hat der Senat nicht nur das aktuelle Ansinnen auf Wohnungsabriss umgehend abgelehnt, sondern seit der Wende stets in jedweder Immobilie der Stadt die Chance zu ihrer Entwicklung gesucht. Zum Jahreswechsel wird mit dem Liegenschaftsfonds ein Instrument installiert, das in den kommenden Dekaden gar jeden fünften Quadratmeter Berlins aktivieren soll. Dabei mochte mit dem Glauben an die Stadt, der sich in offiziellen Positivszenarien wie „Das Neue Berlin“ ausdrückte, die Grundvoraussetzung für ihre Zukunft gegeben sein. Doch reichte das allein nicht, Berlin mit Leben zu erfüllen. Sein Fiskus steht vor dem Offenbarungseid, bei Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung ist es Schlusslicht, egal ob der Vergleich es mit den anderen deutschen Großstädten oder europäischen Metropolen erfolgt. Über eine Million unbenutzter Büros und weit über hunderttausend leerstehender Wohnungen sind das sichtbarste Zeichen, dass diese Stadt nicht mehr als eine Stagnationsinsel ist.

Ebenso nahe liegt, dass das Leitbild und seine staatliche Umsetzung daran nicht unschuldig waren. Das offensichtlichste Beispiel dafür sind die Entwicklungsgebiete, in denen die Kommune ihre Investitionen konzentrierte wie nirgendwo sonst. In den Wasserstädten am Spandauer See und mehr noch an der Rummelsburger Bucht wurden Kraftakte erbracht, die stadtbaukünstlerisch in Europa unerreicht sind. Doch ist die Aufwertung nur augenscheinlich. Das Bauprogramm hat weder Zuwanderer noch zusätzliche Arbeitsplätze angezogen. Zu Letzteren konnte es nicht kommen, weil sie üblicherweise in Neugründungen entstehen, es hier aber nur um Ansiedlung etablierter Unternehmen ging. Neubürger konnten nicht gewonnen werden, weil die Wohnungen auf den berlintypischen Maßanzug zugeschnitten wurden.

Signifikant ist allein das Milliardenloch, das die beiden Wasserstädte nach Berechnungen des Landesrechnungshofes in Berlins kommunale Kasse reißen. Es ist umso verwunderlicher, als etwa Rotterdam sogar mit Gewinn abschloss, obwohl auch hier die Stadt selbst als Waterfront-Entwickler auftrat. Tatsächlich hat das Land Berlin seine Wasserlagen sofort verkauft, nachdem es die Beseitigung ihrer Altlasten bezahlt hat; und damit bevor sich der Mehrwert einstellt, den Rotterdam heute abschöpfen kann, weil die Kommune die Insel Kop van Zuid nur verpachtet hat.

Nicht viel anders sieht es am Friedrichswerder aus, wo derzeit das Pilotprojekt zum Planwerk stattfindet. Nach dem Fiasko für den Fiskus sucht Berlin nun nicht mehr selbst Bauherr zu sein, sondern für die Stadtsanierung und die finanzielle Verantwortung einen privaten Projektentwickler zu finden. Angesichts der Haushaltslage verkauft sie das Grundstück zum Höchstgebot, sodass die Wohnungen rund 10.000 Mark pro Quadratmeter kosten und somit für Berliner unbezahlbar sein werden. Zwar wird es wohl Fremde geben, die sie sich leisten mögen, doch wird die Stadt dadurch nicht automatisch um Produktivkräfte bereichert. Denn die Käufer werden Zweitwohnungsbesitzer, also auf absehbare Zeit abwesend sein.

Doch selbst wenn sie ortsansässig werden sollten, stellen sie Menschen dar, die im Leben schon alles erreicht haben. Schließlich ist diese Zielgruppe in jedem Fall viel zu klein, als dass sie für Berlin relevant sein könnte. Es ist also keine keinesfalls einzusehen, warum die Kommune auf sie ihre Kraft konzentriert.

Vielmehr wäre es für die Berliner von Nutzen, sich auf das urbane Urprinzip zu besinnen. Üblicherweise entwickeln sich Städte nämlich, wo Habenichtse zu saturierten Bürgern werden, indem sie sich ihre Immobilien aneignen. Entsprechende Erfahrungen machen jedenfalls die derzeit am stärken wachsenden Städte der Welt. Die Mega-Citys in Indien und fast flächendeckend in Südamerika erlebten, wie sich Slums in integre Stadtteile verwandelten, nachdem sie die Liegenschaftsbesetzungen durch Randexistenzen und ihr informelles Wirtschaften legalisiert hatten. Bombay musste diese Strategie sogar wieder einstellen, weil es unter dem Zustrom, den sie entfachte, zusammenbrach.

Ein solches Szenario ist auch für Berlin möglich, wo bereits heute in Grauzonen ein Drittel des offiziellen Bruttosozialprodukts erwirtschaftet wird, wo hunderttausend Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung leben und spätestens nach der EU-Osterweiterung noch viel mehr ihr Heil suchen werden. Zugleich hält die Kommune mit ihren Immobilienschätzen das Instrument zur Stadtgenese in der Hand. Sie muss nur ihren Blick von den Wohlsaturierten zu denen wenden, die in dieser Stadt noch etwas erreichen wollen: Zuwanderer, gerade wenn sie zur Unterschicht zählen, und Start-ups. Den Möglichkeiten dieser Menschen ist das kommunale Liegenschaftsmanagement methodisch anzupassen.

Das bedeutet, die verordnete Aufwertung und die Hochpreispolitik zu beenden. Um Existenzgründungen zu befördern, müssen Bauten und Böden billig bleiben. Damit die Stadtgesellschaft von ihrem individuellem Produktivpotenzial profitieren kann, ist der klassische Einzelverkauf zu vermeiden. Stattdessen sind Verfahren zu bevorzugen, die zwischen kurz- und langfristigen, Ego- und Gemeininteressen sowie zwischen Kapitalbesitz und Kreativleistung vermitteln. Zudem müssen sie so flexibel sein, wie die Stadtbürgerschaft heute mobil ist.

Mehr noch als die eigentumsorientierte Genossenschaft wären solche Verfahren der Mietkauf, das Erbbaurecht, Volksstiftungen, die „Bürgerstadt Aktiengesellschaft“, aber auch die vorab festgeschriebene Gewinngemeinschaft von Nutzern und Investoren, die sich etwa durch die Hackeschen Höfe als erfolgreich(st!)es Entwicklungsmodell der Stadt empfohlen haben.