Die Tugend des Zweifels

Sebnitz – das war der Stoff für eine große Geschichte. Es wurde die große Medienpleite

dpa: „Die Berichterstattung über den Tod des 6-jährigen Joseph wird im Ressort Vermischtes fortgesetzt“

Es lohnt, sich die Berichte über den Todesfall des sechsjährigen Joseph nach ein paar Tagen noch einmal durchzusehen. Da ist man dankbar für jedes „haben soll“, jedes „könnte“, jedes Fragezeichen und jeden einschränkenden Hinweis auf das Zustandekommen der Zeugenaussagen. Nicht, weil jetzt ermittelt wäre, dass alles nicht gestimmt hat. Sondern weil klar ist, dass alles ungeklärt ist, alles ungeklärt war. Und dass der Tod des Jungen im Schwimmbad vielleicht nie aufgeklärt werden kann.

Umso unwohler wird einem nun beim Lesen der entschlossenen Behauptungen aus der vergangenen Woche: wenn das als gesichert dargestellt wird, was noch zweifelhaft ist. Die erste und wahrscheinlich meist gelesene dieser Behauptungen stand in der Bild: „Neonazis ertränken Kind“. Auch die taz preschte mit einem unhaltbaren Seite-1-Aufmacher am Freitag vor einer Woche vor: „Badeunfall erweist sich als rassistischer Mord.“ Nichts war erwiesen.

Es ist aber nicht so, dass die Sebnitz-Berichterstattung säuberlich einzuteilen ist. Es gibt kein Gegensatzpaar aus völlig Unachtsamen und ganz Korrekten: Dieselben Redaktionen zogen in Zweifel, was sie an anderer Stelle als zweifelsfrei darstellten: Die Frankfurter Rundschau formuliert am Freitag behutsam, beschreibt exakt das Zustandekommen der Zeugenaussagen und titelt zurückhaltend „Versionen eines Todestages“. Am Samstag wird im Kommentarteil schon der „Mord am kleinen Joseph“, eine „erschreckende Exzess-Tat“ festgestellt. In den Tagesthemen“ am Donnerstag moderiert Gabi Bauer den ARD-Bericht mit einer Frage an: ob es überhaupt vorstellbar sei, dass so etwas passiert und 250 Badegäste zusehen? Unter www.tagesschau.de ist im Begleittext zur selben Sendung von Fragezeichen keine Spur, es regiert der Indikativ: „Mehr als drei Jahre ist es her, dass im ostsächsischen Sebnitz ein Sechsjähriger am hellichten Tage im Freibad grausam ermordet wurde.“ Am Samstag warnt die Süddeutsche Zeitung im selben Artikel zuerst: „Trotz aller Erschütterung ist Vorsicht geboten“, um dann doch darüber zu schreiben: „Ein Kind, ertränkt wie eine Katze.“ Auch im erwähnten taz-Aufmacher unterschied der Text ganz anders als die Schlagzeile deutlich zwischen Verdacht und Tatsache.

Die Linie zwischen Verdacht und Tatsache ist den Journalisten bewusst und wird doch übertreten. Meist wurde nur ein kleines Stück zu weit gegangen. Es sind aber alles kleine Grenzverletzungen, die sich summieren.

Sie geschehen nicht nur dann, wenn geurteilt statt verdächtigt wird. Sondern auch, wenn ein Urteil suggeriert wird. Wenn großflächige Fotos der Leiche des Jungen gedruckt werden (Bild: „Der tote Joseph, aufgebahrt in der Kirche, umrahmt von seinen Kuscheltieren“), dann schießt einem das Urteil in den Kopf. Ähnlich funktioniert es, wenn Behauptungen über Zitate in den Text eingeschmuggelt werden. Welche Chancen haben einschränkende Hinweise gegen Zitate von Zeugen, die eindeutig beschreiben, wie Joseph ertränkt wird? Wie soll man diese Zitate einordnen, wenn daneben nicht völlig offen gelegt ist, wie die Aussagen zustande gekommen sind: Haben die Journalisten Tonbänder der Gespräche von Josephs Mutter mit den Zeugen gehört? Oder haben sie nur die Abschriften gelesen und wissen nicht, ob und wie die Gespräche stattgefunden haben, ob und was später verändert wurde?

Nachdem der Zug fast unkontrolliert in die eine Richtung raste, ist er beinahe genauso schnell in die andere gefahren. Erste Botschaft: Mord. Zweite Botschaft: Doch Badeunglück. Diesmal sind zwar einige „könnte“ mehr enthalten. Aber wieder werden Zitate von Zeugen kaum in Zweifel gezogen. „Fall Joseph: Kein Zeuge sah Skinhead im Bad“, schreibt zum Beispiel die Süddeutsche am Mittwoch. Dabei ist es eigentlich nur so, dass alle, die die Staatsanwaltschaft befragt hat, erklären, keinen Skinhead gesehen zu haben. Vielleicht sagen die Zeugen die Wahrheit, vielleicht lügen oder irren sie. Auch die Nachrichtenagentur Reuters kann sich am Mittwoch nicht bremsen, als sie Ministerpräsident Kurt Biedenkopf mit subtilen Andeutungen zitiert, „es gebe wahrscheinlich für alles eine ‚ganz einfache Erklärung‘, die er aber noch nicht verbreiten könne“. Ein paar Stunden später melden die Agenturen, der Junge sei herzkrank gewesen. Obwohl immer noch nichts bewiesen ist, heißt die Botschaft jetzt: Tragisches Unglück. dpa informiert prompt die Redaktionen: „Die Berichterstattung über den Tod des sechsjährigen Joseph in Sebnitz wird ab sofort im Ressort Vermischtes fortgesetzt.“

Wie kann es zu all den kleinen und größeren Grenzverletzungen kommen, die fast zur Besinnungslosigkeit getrieben wurden? Ein trivialer Grund ist der Wettbewerb der Medien, der offenbar immer weniger Zeit zu gündlicher Recherche und Nachdenken lässt. Die hohe Geschwindigkeit steht in einem Missverhältnis zu den redaktionsinternen Kontrollen. Auch im Fall Joseph nahmen der Wettbewerbsdruck und die Übertreibungen zu, weil das Thema so viele der Eigenschaften hatte, die eine Geschichte braucht, um wirklich groß zu werden: Es ging um ein Verbrechen, das personalisierbar war. Es gab die Familie, die – wer kann es ihr verdenken – Journalisten mit Protokollen und Bildern bediente. Und die Geschichte ließ sich einordnen in eine Vorgeschichte rechtsextremer Übergriffe. Da fehlte nur noch eins: die Eindeutigkeit.

Die kleinen und größeren Grenzüberschreitungen haben nun Schaden angerichtet. Es ist zwar so, dass lieber einmal zu viel über einen schlimmen Verdacht berichtet werden muss. Es ist aber auch so, dass lieber einmal zu wenig vorschnelle Eindeutigkeit hergestellt werden darf. Nur diese mediale Eindeutigkeit lässt die Empörung derart scharf werden, dass sie auf allen Seiten so verletzend wirkt. Auf dem vermeintlich eindeutigen Bild, es sei doch ein Unfall gewesen, bauen nun wieder ungebremste Attacken sächsischer Politiker auf. Was werden sie tun, wenn es doch kein Unfall war?

Alle Beschwichtiger der Fremdenfeindlichkeit können ein wunderbares Beispiel bekommen

Dem Kampf gegen den Rechtsextremismus nützt die so verunfallte Berichterstattung nichts. Im Gegenteil. Alle Beschwichtiger der Fremdenfeindlichkeit könnten ein wunderbares Beispiel bekommen. Und die Rechten werden den Fall des toten Joseph für sich nutzen. Der Tenor lässt sich schon vorhersagen, wenn man einen Blick in das Wochenblatt für rechtsradikale Intellektuelle wirft, die Junge Freiheit: „Medien: Panikmache mit der ‚rechten Gefahr‘“, schrieb die Zeitung und verwies unter anderem auf den – noch ungeklärten – Bombenanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge. Und weiter: „Nur zu oft werden die Leiden der Opfer fremdenfeindlicher Ausschreitung zu politischen Zwecken missbraucht und in zynischer Weise politisch instrumentalisiert.“ Die Rechten werden es künftig kürzer formulieren. „Siehe Sebnitz“, werden sie sagen, und ihnen wird es egal sein, ob alles unklar ist. Den Journalisten darf es nicht egal sein.

GEORG LÖWISCH