Gottlos selbstreflexive Monologe

■ „Zorn. Nacht der Fliege“ am Thalia in der Gaußstraße

Wir leben in einer gottlosen Zeit. In der Postmoderne galt es als schick, alle Glaubensfelder zu zerstören. Zurück blieb eine fragmentierte, entzauberte und entromantisierte Welt, in der sich heute viele auf die Jagd nach einem Halt begeben, am liebsten nach einem Gott.

Manch einer lebt gut davon, so wie der Glaubensprediger Richard Zorn (Hannes Hellmann) in Steffen Kopetzkys neuem Stück Zorn. Nacht der Fliege. Unter der Regie von Hartmut Wickert feierte es auf der neuen Studiobühne des Thalia Premiere. Da sitzt Zorn behäbig in einem Sessel seines bequemen Hotelzimmers, einer gehobenen Übernachtungsstätte. Es ist Nacht, Zorn findet keinen Schlaf und verfällt in selbstreflexive Monologe. Zuviel Dunkelheit, Bedürfnisse, Fragen, Rätselhaftigkeit umgeben ihn. „Immer geschmeidig bleiben“, lamentiert er. Als eine Art Handlungsreisender in Sachen Gott ist er unterwegs. Und diese Aufgabe erfüllt der untersetzte Mann mit dicker Hornbrille und Sandaletten, die er – ganz ein Jesus – an den bloßen Füßen trägt, mit Verve. Vor seiner prophetischen Mission hat er Serien-Drehbücher geschrieben. Nicht erst seit Erfindung der Seifenoper und der berühmtesten deutschen Wohngemeinschaft wissen wir, Fernsehen stiftet manchem Sinn in einem Leben, das nicht mehr zu überschauen ist. Doch Zorn wurde aus seinem Job gefeuert, „mangelnden Bezug zur Gegenwart, insbesondere der Gegenwart der Jugend“, bescheinigte man ihm.

Der abgehalfterte Drehbuchschreiber schreibt nunmehr sein eigenes Drehbuch und das nur für eine Person, denn auch seine Frau hat ihn verlassen. Vor seinen Zuhörern spricht er über Gott, genauer, über das, was Gott nach historischer Überlieferung um 1840 dem in der unteren Steiermark lebenden gläubigen Organisten Jakob Lorber in die Feder diktiert hat. „Steh auf, nimm deinen Griffel und schreibe“, soll die himmlische Order seinerzeit gelautet haben, und den Rest seines Lebens hatte Lorber damit verbracht, das Diktierte in 25 fünfhundertseitige Bände zu bringen.

Wie einst der Organist stimmt Zorn das Lied der Fliege an, Synonym für den Glauben in Demut. Zorn betäubt seine Gedanken und Lebenszweifel mit Routine, mit dem Fernseher, der in jedem Hotel vorhanden ist; er fühlt sich gebraucht und gleichzeitig ohne Kontrolle wie auf einem schwankenden Schiff. Hannes Hellmann verzerrt sein Gesicht zu immer neuen Grimassen und versprüht dabei augenzwinkernde Selbstironie.

Die Chiffre Lorber entlarvt das verschwörerische an Gott, und auch ein gewisser Ron (Hubbard?) kommt vor und lehrt Zorn die Geschäftstüchtigkeit: „Wenn man Geld machen will, muss man eine Religion gründen“. Doch alles erklären darf man nicht. Zorn. Nacht der Fliege ist ein kleines, konzentriertes Werk, das trotz Handlungsarmut nie in Langeweile abdriftet.

Annette Stiekele

Weitere Vorstellungen: 15. + 20.12., 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße