Kleinem Vogel sei Dank

Tschechow-Sampling am Schauspielhaus: Stefan Pucher remixt „Die Möwe“ für eine TV-Generation  ■ Von Annette Stiekele

„Scharlatane sind unter uns. Sie behaupten zu wissen was eine richtige Figur sei. Glauben Sie diesen Herrschaften kein Wort. Die haben im Theater nichts zu suchen. Sie sind zu feige, hinter sich selbst zu gucken und sich auf das Spiel einzulassen, das wir das neue Theater nennen.“ So lässt zu Beginn Regisseur Stefan Pucher die vom Schicksal gebeutelte Provinzschauspielerin Nina (Sarah Masuch) ins Publikum dozieren. Der Putz bröckelt von den seitlich angebrachten Engeln, der Vorhang bleibt erst mal geschlossen und die Akteure schreien sich aus den Logen über die Köpfe der Zuschauer hinweg an. Theater fern aller Konvention, das dem Zuschauer, „der einen Mangel an menschlicher Tiefe beklagt“, ins Gesicht spucken soll.

Der eingefügte Text des jungen Berliner Autors Jens Roselt ist ein unmissverständliches Statement des neuen Hausherren. Unverstanden wie Tschechows Hauptfigur, der junge erfolglose Schreiberling Kostja, fühlt sich auch Stromberg, dem Publikum und Kritik bislang die Anerkennung für sein postdramatisches Anti-Theater verwehren. Es sei denn es handelt sich um ein buntes Weihnachtsmärchen mit Musik. Doch nun kommt, einem kleinen Vogel sei Dank, Bewegung in das erstarrte Verhältnis.

Tschechows Möwe musste reichlich Federn lassen, bevor Stefan Pucher sie in eine multimediale Bühnenperformance transferiert hat. Mit einem hochgelobten Kirschgarten vor einem Jahr in Basel hat sich der „DJ-Regisseur“ als Tschechow-Interpret empfohlen. Sein Sampling der Möwe lässt die Beteiligten den stark verknappten Text zunächst in den Logen als Hörspiel rezitieren. Alles wartet auf den Beginn der Aufführung des neuen Stückes von Kostja, den Alexander Scheer als schwärmerischen Melancholiker mit der Attitüde eines Popstars gibt. Neben ihm verstehen vornehmlich die älteren Ensemblemitglieder zu schauspielern. Genussmensch Sorin (Matthias Fuchs), von Tabea Braun wie die übrigen männlichen Darsteller in feminine Pullover gesteckt, lädt aufs Land. Seine Schwester, die berühmte Schauspielerin Arkadina (egozentrisch: Sabine Orléans) schmachtet den überheblichen alternden Dichter Trigorin (aalglatt: Wolfram Koch) an, genauso „die Möwe“, Nachbarstochter Nina (blass: Sarah Masuch), die wiederum von Arkadinas Sohn Kostja innigst verehrt wird.

Von den Figuren erfährt man praktisch nichts – getreu der Devise, nur keine Geschichten von Menschen zu erzählen, denn, so die anfängliche Lektion: „Wer behauptet zu wissen, was eine richtige Figur sei, muss zunächst wissen, was ein Mensch sei.“ Sehr wohl erfährt man aber etwas über das Leben und den Verlust des Zwischenmenschlichen, kalt und glatt wie die Eisfläche, auf der die traurigen Landbewohner einsam zu anschwellenden Violinen ihre Runden ziehen. Dann gewinnt das Stück an Schönheit und Tiefe. Eine dreiteilige Bühne, die zunächst nur illustratives Beiwerk mit unmotivierten Bildern des nämlichen Federviehs zeigt, greift überlebensgroß die „Handlung“ auf und zeigt, wie Trigorin Nina erobert. Nachdem er sie benutzt und wieder fallen gelassen hat, wird sie als gescheiterte Provinzschauspielerin ihr Leben fortsetzen. Bezeichnenderweise schauen die Figuren sich nicht an, wenn sie von so großen Dingen wie Liebe reden.

Nach der Pause wird die Leinwand zum Wohnhaus umdekoriert. Hier sieht Kostja nicht nur seine Liebe für immer enttäuscht. Er muss sich auch noch von seiner exaltierten Mutter als „Warmduscher“ und „Theaterleerfeger“ titulieren lassen, woraufhin er zum allgemeinen Vergnügen mit „Matrazendesdemona“ und „Rampenschlampe“ kontert. Am Schluss bleibt ihm nur der Freitod; warum, das versteht nur, wer Tschechow gelesen hat. Ist aber vielleicht auch nicht so wichtig in diesem Theaterremix, der auf eine TV-Generation zugeschnitten ist und fehlende Perspektiven und Sinnlosigkeit des Daseins auf seine Weise vermittelt.

Und was ist am Ende das Leben? Hier bleibt die Aufführung bei Tschechow in seinen Briefen: „Was ist eine Mohrrübe? Eine Mohrrübe ist eine Mohrrübe, mehr ist da-rüber nicht zu sagen“.

Weitere Vorstellungen: 8. + 23.12., jeweils 19.30 Uhr; 9., 17. + 25.12., 2. + 3.1.2001, jeweils 20 Uhr; Schauspielhaus